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AfGopauer Gonntas^vlatt Verlage »um ÄfGopauer Tageblatt und Anzeiger Nr. 13 Sonnabend, den 2. April 1938 Fortsetzung. 1SL7 »v ^utvstt»-V«rIaL L«Ua LV SS 16. „Geh doch endlich", drängte Beate. Aber Schwester Brita winkte zornig ab. Sie hatte gerade ein paar Worte aufgefangen. „Das tut mir ja alles furchtbar leid", sagte er mit seiner „außerdienstlichen Stimme". Die Töne kannte sie. Nur er konnte eine solche Wärme aufbringen, seine Stimme konnte beschwichtigen, zureden, begütigen, glätten; alles, was dieser Mann wollte, konnte er auch. In seiner Beeinflussung lag seine Macht und auf dieser waren seine Erfolge aufgebaut. In der Behandlung subtiler Menschen und kranker Seelen war er Meister. Sie wußte das am besten. Und jetzt stand sie vor der Tür jenes Zimmers, in dem sie einmal Königin gewesen war. Schwester Brita war durchaus nicht sicher, ob Frau Nelly nicht etwas geahnt hatte zu jener Zeit, als der Chef sich ihrer so annahm, weil sie arm war und mit ihrem kleinen Gehalt noch einen Bruder zu unterstützen hatte. Er verschaffte ihr schriftliche Hausarbeiten; sie machte Ueberstunden für ihn, die er aus seiner Tasche bezahlte. Es wär auch damals ein beständtges Telephonieren zwischen der Klinik und seinem Haus gewesen, und oft hatte sie seine Frau am Telephon getroffen, aber niemals hatte diese ihr Mißtrauen oder Haß gezeigt. Nun ging's ihr wie jener. Ein bitteres Lächeln zuckte um den schönen Mund. Ausl, dachte sie. WaS hatte sie sich eigentlich eingebildet, als er sie damals so vor den anderen Schwestern auszeichnete, mit Geschenken ihre kleinen Dienste belohnte, daß er mit ihr über Dinge sprach, über die er mit niemand sonst in der Klinik gesprochen hätte? Dann war die dumme Geschichte mit Döterle dazwischengekommen und hatte allem ein Ende gemacht. Er wurde versetzt, ging nach Bonn und schrieb ihr von dort aus zärtliche Briefe. Vielleicht endete eS doch einmal damit, daß sie Frau Döterle wurde.., Brita Freiin von Shrenberg-Storein — Frau Döterle? Sie hatte eine Ab neigung vor lächerlichen Namen, und dieser Name — nein, sie kam nicht darüber hinweg. Aber hierbleiben und das mit ansehen, was jetzt hier vorging, konnte sie nicht. In Bonn konnte sie jeden Tag eine neue Stellung be kommen. Aber wenn sie dorthin ging, gab'S kein Zurück mehr. Sie klopfte und betrat in kriegerischer Haltung das Zimmer. Sie hatte ihn gestört, denn er hielt sofort die Hand über die Hörmuschel. Ein unwilliger Blick traf sie. Aber das machte ihr nun nichts mehr, und sie sagte ihm, daß sie um ihre Entlassung bitte. - Er hing ohne weiteres den Hörer an. „Aber Schwester Brita! Und was ist der Grund Ihrer plötzlichen Kün digung?" Sie zögerte nnd sah über ihn hinweg. „Sie haben keinen Grund, nicht wahr?" Sie blitzte ihn an. „Keinen Grund? Einen dienstlichen? Nein. Ich möchte mich mal verändern." „Nun, dann verändern Sie sich", sagte er trocken. „Wohin streben Sie denn? Nach dem Rhein vielleicht?" „Das weiß ich noch nicht." „Ach so, Sie haben noch nichts? Sie haben sich nur geärgert? Wer ist denn der Schuldige? Der neue Ober- arzt, eine zänkische Schwester, oder am Ende ich?" Er lächelte. Sic blieb ernst, sie schwieg. Sie hatte wieder die Hände in den kleinen Schürzentaschen stecken und stand vor ihm in guter Haltung, straff, mit sehr geradem Rücken. Ihre Augen zuckten, als ob sie weinen wollte. Aber Schwester Brita weinte nie. Aber sie war sich bewußt, daß sich in dieser Stunde ihr Schicksal entschied. Es hing alles an einem Haar. „Ich werde mich verheiraten", sagte sie. „Ach so, das ist etwas anderes." Er stand auf und trat vor sie hin. Er nahm ihre beiden Hände und sagte, indem «r ihr in die Augen sah: „Darf man sich freuen oder...?" „Oder?" «Oder ist es nur eine Flucht?" „Vor was?" ' „Na, Brita, wir verstehen uns ja.» Sie annele schwer. Er sah, daß sie zitterte. Er legte seinen Arm um ihre schlanken Schultern und zog ihren Kopf an sich. „Wer ist denn der Glückliche?" fragte er. Sie machte sich los und trat einen Schritt zurück. „Ist er in Bonn?" Sie schwieg und schaute auS dem Fenster, indem sie vergeblich versuchte, ihre Bewegung zu verbergen. „Nun, dann gratuliere ich Ihnen", sagte er aufrichtig und reichte ihr die Hand. „Und ihm gratuliere ich auch, das können Sie ihm ausrichten." Sie riß sich los und stürzte aus dem Zimmer. * In den ersten Tagen war es schön hier oben. Der Wald war noch grün, die Tannen standen hoch und dicht um das Haus, und von ihrem Fenster aus tonnte sie weit Uber die Wälder schauen. Die Ruhe des Hauses, die Be sorgtheit, mit der man st«, umgab, die Besuche de- Anftaltsleiters Dr. Hiller taten ihr Wohl und beruhigten Nelly Bothmer. Nach der Untersuchung, die Hiller gründlich und ge wissenhaft vornahm, hatte sich herausgestellt, daß k?ine organische Erkrankung vorlag. Das Herz war gesund. Doch waren gewisse Störungen da, deren Ursache in seelt- schen Erregungen zu suchen waren. Frau Nelly war gesund und sah trotz ihrer erwachsenen Söhne aus wie eine Frau von sünsunddreihig. Hiller verehrte Bothmer, er kannte ihn persönlich von seiner Zeit bei Westen her. Bothmer wußte die schwierig, sten Fälle mit ein paar Fragen zu lockern und löste Rätsel, die unentwirrbar schienen. Bei seiner eigenen Frau hatte er offenbar versagt... Es war ein Zustand völliger Er- fchöpfung, in dem Frau Nelly angekommen war. Das Herz ging matt, der Puls war kaum mehr zu spüren. Niemand durfte zu ihr, nur die Schwester, die sie un hörbar bediente; und er selbst, der jeden Morgen seinen ersten Besuch bei ihr machte. Tie war sine seiner be scheidensten Patientinnen. Tie verlangte nichts, sie hatte keine Wünsche, sie lag still in ihren Kiffen, mit geschlossenen Augen. Sie bat nur, ihr einige Bücher für die Nacht hin zulegen, denn in den ersten Tagen konnte sie nicht schlafen. Die erste Woche verging, ohne daß etwas Besonderes eintrat. Als Bothmer anrief, konnte ihn Dr. Hiller be ruhigen. Es sei nichts Konstitutionelles, nur seelisch sei seine Frau sehr angegriffen. Besuche waren ihr einstweilen verboten. Bothmer erinnerte sich, daß er von Westen gehört hatte, daß dieser Doktor die Seele sehr wichtig nahm, und meinte, es sei gut, daß es nichts Körperliches sei, das andere gäbe sich von selbst. Merkwürdig, diese großen Psychologen, dachte Hiller, als er anbing. Frau Nelly verlangte auch nicht nach Besuchen. Sie ging in den ersten Wochen auch nicht vor die Tür ihres Zimmers. „Es ist, als wenn man auf einer vergessenen Insel lebt", sagte sie zu der Schwester. Sie wollte keine Zeitungen sehen. „Denn da steht nur drin, was gestern geschehen ist, und das wissen wir meist, aber was morgen geschehen wird, steht nicht drin." Die Damen, die in den Nachbarzimmern wohnten und mittags im Park Krocket spielten oder abends im Musik zimmer beim Lautsprecher Handarbeiten machten und Patience legten, andere Spiele und Beschäftigungen waren nicht erlaubt, interessierten sich für diese unsichtbare Patientin. „Ich werde ihr mal einen Besuch machen", beschloß eine kleine, unternehmende Hamburgerin, die ihre Schei dung hier oben abwarten wollte. Am Nachmittag, als die Schwester gerade zum Kaffee gegangen war, stand plötzlich eine kleine, hübsche Frau vor Nellys Bett. „Verzeihen Sie, wenn ich hier eindringe." Nelly legte das Buch fort. St« faß in den Kiffen und hatte ein« Rackenroll« unter dem fchönfrifierten Kopf- Ihr« Augen schauten di» jung« grau an. „Darf ich einrn Augenblick dableiben?" Die junge Frau nahm Platz. Aus dem Augenblick wurde ein« ganz« Stund«. Nach zwanzig Minuten wußte Nelly den Namen der Dame, die Tragödie ihrer Ehe, ihr» verwickelten Familiengeschichten, ihre Geldnöte. Denn der Mann, dem sie weggelaufen war, ließ sich immer erst durch den Anwalt mahnen. Diesen Aufenthalt bezahlte ihr« Mutter. Ihr Mann gab ihre Möbel nicht heraus und hatte auch die beiden Kinder, Mädchen von acht und neun Jahren, behalten. Die Hausdame war der Grund ihres Zerwürfnisses. „Wir haben alle etwas hinter uns, wenn wir hierher kommen", sagte sie. Obwohl Nelly wußte, daß man bei solchen Schilde rungen immer beide Parteien hören muß, erweckte diese Frau doch ihr Mitgefühl; sie begann, sich mit ihrem Schicksal zu beschäftigen. Als die Schwester zurück kam, war sie entsetzt, Besuch vorzufinden. Aber Frau Nelly meinte: „Lassen St« nur, es war ganz gut sür mich, es hat mich einmal äbgelenkt." Und sie bat die kleine Frau, wiederzukommen. Die Ruhe der ersten Tage hatte ihre Wirkung getan, sie erholte sich langsam, stand schon äm Tag« ein paar Stunden auf, und saß in ihrem kleinen, sonnigen Winter garten, der voll blühender Blumen stand. Horst schrieb ihr oft. Er schien anzunehmen, daß sein« Mutter sich, um der Geselligkeit des Wtnt«rS zu entgehen, hierher zurückgezogen hatte. Er fand daS sehr richtig. Si« mußte sich einmal gründlich erholen. „Reisen mit Papa Pflegen ja keine Erholung zu sein. Ich besuche Dich, sobald ich mein Examen hinter mir hübe." Er war sehr fleißig. „Hier kann ich wundervoll arbeiten. Alles, WaS ich zu Hause geschrieben habe, hab' ich ins Feuer geworsen." Er kam mit seiner Arbeit vorwärts, hatte «in nettes Zimmer mit Aussicht auf den Neckar und das Schloß, und wollt« Weihnachten heimkommen. Weihnachten, dachte sie, wo werde ich dann sein?! Er schien nichts zu ahnen. Er ermahnte sie, ihren Ur laub gut auszunützen. „Du hast'S verdient, Ma." Auch Detlev schrieb ihr, allerdings hatte er den Brief nach Hause gerichtet. Es war der übliche Brief, der jeden Monat eintraf. Er hatte neue Arbeiten veröffentlicht, di« ihm sein Chef überlassen hatte, die Ergebnisse seiner For schungen. Sie hatten ihren Urlaub im Erzgebirge ver bracht; seine Frau war mitgewandert, obwohl sie daS zweite Kind erwartete. Es ging ihr gut, und dem Kleinen auch. Er ließe seinen Vater grüßen und fragte auch nach Horst, von dem er lange nichts gehört hatte. Sie antwortete sofort und schrieb, sie habe sich für einige Zeit in ein Sanatorium begeben; sie wollten diesen Winter ganz zurückgezogen leben, sein Vater habe viel zu tun, und sie wollte einmal mit den Gesellschaften aus- setzen. Sie legte einen Geldschein in den Brief und ließ seine Frau grüßen, die sich nie mit einer Frage oder einem Gruß seinen Briesen anschloß. Nelly fand es nicht der Mühe wert, mit einem Menschen zu hadern, der sie ge kränkt hatte. Im Sommer hatte sie alle Bilder und Möbel, die sie mit in die Ehe gebracht hatte, auf der Rückseite mit kleinen Zetteln beklebt, auf denen die Namen derjenigen geschrieben standen, die sie erben sollten. Meinem Sohn Horst, meinem ^ohn Detlev, meinem lieben Mann. Auch auf die kostbaren Truhen und Kom moden hatte sie diese Zettel geklebt, damit sie es nachher leichter hatten. Streitigkeiten bei Erbschaftsteilungen waren so peinlich. An diese Zettel hatte sie gedacht, als sie damals in der ratternden Taxe nach der Bahn gefahren war, allein, mit ihrem Koffer. Da sie fest entschlossen war, nicht wehr zurückzukommen, und ihr Mann ihr nie ein Wort auf ihren letzten Bries erwidert hatte, nahm sie an, daß er mit ihrer Abreise einverstanden sei. SS war jedenfalls daS beste sür sie beide. Daß st« nl« an ihn schrieb, schien ihn nicht zu be unruhigen; vielleicht verbarg er sich hinter der Sorg» nm ihr Ergehen, -hex Dr. Hiller hatte ihn darym geböten. Bothmer televdonitrt« oft mit tdm. Ltüer ilbirn »n