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"W «Mir kann nur Gott helfen, Erna! Ich weiß, daß Sie mich nicht nanz verstehen werden. Aber wenn Ihnen - einmal im Leben alles anders geht, als Sie es gedacht haben, wenn einmal der ganze furchtbare Ernst unmittel bar an Sie herantritt, dann findet man sich doch znrüc zu dem Einen, den man in guten Zeiten schnell zu ver gessen geneigt ist." ! Jrmingart von Schadow staunte selber über ihre Auf geschlossenheit dem jungen, fremden Mädchen gegenüber. Roch nie hatte sie einen hier in ihr Innerstes blicken lassen. „Sie sprechen so seltsam schön, wie Sie sind!" sagte Erna Wernicke nach einer langen Pause sinnend, und ihr Blick streifte in heißem Mitleid das harte Margarinebroi Jrmingarts, dessen letzter Saft in der Wärme der Zentral heizung ausgedörrt war. Armes, schönes Fräulein von Schadow!, dachlc Erna bewegt. Sie hatte selbst kein rosiges Schicksal. Der Vater war Chaussenr. Vier kleine Geschwister waren noch zu Hause. Es ging sehr knapp zu. Aber einen Wurstbclag hatte sie doch meist auf der Schnitte, während sic bei Fräulein Schadow nun schon seit Wochen jeden Morgen das kaum bestrichene Brot sah. Doch plötzlich schien sic ein neugierig kecker Gedanke zu beherrschen, den sie scheinbar absolut nicht unterdrücken konnte: „Ist es wahr, daß Ihnen der vornehme Flieger von damals ein Telegramm geschickt hat?" fragte sie ganz un vermittelt. Es halte sich im Laden hcrumgesprochcn, ob wohl man nichts Genaues wußte. „Tie Kolleginnen er zählen es sich, und heute haben sie ei» paar freche Späße gemacht, weil dieser arme Mensch scheinbar ver unglückt ist." Entsetzt schaute Jrmingart die kleine Sprecherin an. Bis in die Lippen war sic schneeweiß geworden... War es möglich, daß es Menschen gab, die über das grausame Schicksal anderer witzeln konnten!? Da erkannte Erna augenblicklich, was sic mit ihrer dummen Frage angcrichict haue: „Ach, bitte, liebes Fräulein "Schadow — ich wollte Ihnen ja nicht weh tun! Mir war cs nur, als ob oer Herr Sie immer wieder angesehen hätte, als er ging. Und da..." Sic brach ab. In Jrmingarts Augen standen ein paar schwere, blanke Tränen, die wie glühende Tropfen in Ernas empfindsames Herz sielen. „Ich weiß, daß Sie mir nicht weh tun wollen, Erna! Sprechen Sie bitte nicht darüber, daß ich jetzt schwach, ge worden bin... Aber manchmal kann man nicht mehr mit allem fertig werden." Dann ging Jrmingart schweren Schritts wieder an die Arbeit. Die kurze Frühstückspause war zu Ende. Erna Wernicke aber folgte ihr wenige Minuten späser; »qber weil die kleine Verkäuferin keiner beachtete, sah Man auch nicht die Spuren frischer Tränen auf ihrem Gesicht Dreizehntes Kapitel. Inzwischen hatte der Vormittagstrubel eingesetzt. Der Laden war voll. Die Kundschaft wollte schnell und prompt bedient sein. Jrmingart drehte sich immerwährend iM Kreise herum. Bald mußte sie aus den Hinteren Ladentisch, bald auf den vorderen greifen. Dann wieder versanken ihre seinen Hände in der kalten, beizenden Lauge einer Heringstonnc. Die Warner hatte schon recht, dieses scharfe Wasser riß die Haut gefährlich auf, und die vielen kleinen Wunden schmerzten böse, wenn sie dann mit den Eisstücken in den großen Fischbottichen in Berührung kamen. Da drängte sich plötzlich eine ältere und offensichtlich vornehmen Kreisen angchörende Dame zu Jrmingart hin. Jrmingart stutzte. Sie fühlte wohl, daß diese Dame, die Henneberg mit tiefer Verbeugung begrüßt hatte, be sonderes Jntpressc daran nahm, gerade von ihr bedient zu werden. „Bitte, Fräulein Schadow, bedienen Sie erst mal die gnädige Frau!" sagte da auch schon Henneberg. „Sechs Heringe mit Milch und sechs mit Rogen, bitte!" hörte sic dic hohe Fistelstimme der Dame. Dabei studierte die Fremde das trotz des Schmerzes oder vielleicht gerade deshalb verklärt schöne Gesicht der jungen Verkäuferin unablässig, deren schimmerndes, blond lockiges Haar sich dicht unter der kleidsamen, weißen Haube hervordrängte. „Es muß aber ganz genau stimmen!" erklang es un geduldig bcschlend. Jrmingart wurde unsicher unter den Blicken der grauen, kalten Augen. Eifrig bückte sic sich, tastete und suchte und suchte... Aber für ihre ungeübten Augen war es nicht leicht, sofort richtig zu unterscheiden. Jedesmal mußte sie erst den einzelnen Hering herausnehmen und gründlich unter suchen. Zudem war die Tonne schon weit über die Hälft-: geleert, was das Bücken bedeutend erschwerte. Schon fühlte Jrmingart, wie ihre Knie zu zittern anfingcn. Diese Anstrengung trieb ihr das Blut in das blasse Gesicht, so daß das junge Mädchen minutenlang aussah wie das blühende Leben selbst. Aber das war nur Schein. Den beobachtenden Augen der Kundin aber entginz keine Regung des wundersamen Mädchenantlitzes, und mit immer stärkerem Neid gedachte sie der Tochter daheim, die diese junge Verkäuferin hier allerdings gefährlich in den Schatten stellte. Und doch . . . sollten sich die Lebcnswünsche einet jungen, schönen, reichen und berühmten Mannes »ich höher versteigen? Sollte er sich so verplempern, daß ei mit einer Verkäuferin Beziehungen anknüpfte und es nicht einmal für nötig hielt, sie geheim zu halten? Gott, fi« ein „Verhältnis" vor der Ehe hätte man als modern, Schwiegermutter ja schließlich Verständnis gehabt; ab« die jugendliche Unüberlegtheit durfte doch nicht so weit gehen, daß man so etwas der Oeffentlichkett preisgab? Jrmingart von Schadow aber ahnte nicht, daß sie i, der schwer zufriedenstellenden Kundin Frau von Krehlc, vor sich hatte, dic von dem Telegramm des Fliegers m sie erfahren hatte und nun um ihre Tochter Sieglind, bangte, die sich seit langem schon als Hartmut von Camp raths künftige Gattin betrachtete. Die Familien von Krehler und Camprath waren weit läufig verwandt, und die beiden Mütter, Geheimrätin vo> Camprath und Frau Oberst von Krehler, halten schon feit Jahren heimliche Hofsnung auf Verbindung ihrer beide» Häuser durch HartMut und Sieglinde. Zwar war niemali ein offenes Wort über diese Angelegenheit gefallen, abei doch waren zarte, scherzhafte Andeutungen von keiner dei Frauen zurückgewiesen worden. Nur Hartmut schien ausfallenderweise keine Notiz davor nehmen zu wollen. Er behandelte Sieglinde von Krehlc, immer mit derselben gleichmäßigen Freundlichkeit, und schien sür die werbenden Aeußcrungen seiner Mutter ein fach taub zu sein, und zwar ebenso taub, wie er für Sieg linde von Krehlers kokette Augcnaufschläge blind war. Hätte Sieglinde allerdings dieses Gesicht!, überraschte sich Frau von Krehler jetzt in Gedanken, doch zur gleichen Sekunde stieg auch ein brennender Haß in ihr auf gegen das cngelschöne Gesicht. „Ich habe wirklich nicht so viel Zeit, wie Sie sich zu nehmen scheinend" sagte sie spitz zu Jrmingart, die er schrocken aussah. „Sehen Sie sich doch nicht stundenlang um! Haben Tie nicht verstanden, was dic gnädige Frau sagt?" fuhr nnn auch Henneberg noch dazwischen. Kundschaft wurde aufmerksam und blickte interessiert auf das schone, hilflose Mädchen, an dessen angstvoll pein licher Verwirrung Frau von Krehler sich jetzt erbaute. „Mein Golt, Sie werden doch zwölf Heringe finden!?" Sic lachte höhnisch. «Fortsetzung folgt.)