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Dina Grütlmannl Plötzlich stand sie im Geiste vor ihm mir ihrem leidvollen, reifen Gesicht, der stillen Festigkeit um den herben Mund und den warmen Augen. Dina Grütlmannl Damals hatte sie so zu ihm gesprochen, als sie vor ihrer Liebe zu ihm aus dem Hause geflohen war. Fahre waren dahingegangen. Aber er wühle: eine Dina Grüttmann hielt ihr Wort. Sie war der einzige Mensch, den er jetzt in seiner Not um Marion rufen konnte. Wie war doch ihre Ädreffe? Ahl, jetzt besann er sich. Alles war ihm plötzlich gegenwärtig in Vieser Stunde, da er Rettung und Hilfe für sein Kind suchte. Noch am Abend ging eine Kabeldepesche an Dina Grüttmann nach Amerika: „Komme zu mir! Wir brauchen Dich!" Die ganze alte Stadt Braunschweig stand im Blau und Weiß der Fliederblüte. In dichten Trauben drängte er über Gärten und Zäune. In dichten Trauben hing er über dem behaglichen, kleinen Kasseeplatz im Garten des alten Sanitätsrats Keunecke. Das kleine Zugehemädchen Martha kam, hochrot vor Eifer, aus dem Hause; ängstlich hielt sie ein großes Kaffeebrett mit den schönen, goldgerändcrtcn Tassen, einer Kaffeekanne und einem Niesennapfkuchcn. Ihre weiße Schürze über dem blauweißgestreiflcn Kleide knisterte fröhlich im leichten Winde. Herdith Aßmussen stand vor dem Kafseetisch. „Na, also fertig, Martha?" fragte sie freundlich. „Sehen Sie, wie wunderschön unser Kuchen geraten ist." „Aber gnädiges Fräulein! Ich habe doch bloß die Rosinen zurechtgemacht." „Nein! Sie haben auch zehn Minuten lang gerührt, Marthchen. Passen Sie auf, den nächsten Kuchen, den backen Sic schon ganz allein!" Die kleine Martha lachte über ihr ganzes frisches Kindergcsichi. „Wenn Fräulein Hcrdith so etwas sagt, da bekommt man richtig Mut!" Sorgsam stellte sic die Kaffeetassen hin und dep Kuchen in die Mitte. „Bringen Sie für Onkel noch ein paar Kissen. Marth chen!" rief Hcrdith. Sie zupfte noch einmal an dem blütcn- weißen Tischtuch, stellte die Scrvicttcn gefällig hin. So, nun war alles in Ordnung. Nun mußten nur die beiden Männer kommen. Wo blieben sie nur? ' ' 'x ' Seit einer Stunde hatten sie sich schon in Ontel Hein- richts Arbeitszimmer eingeschloffen und redeten mitein ander. Da endlich sah sie vom Hause her zwei Gestalten auftauchen: Onkel Heinrich, sorglich gestützt von Jobst Reichardt, kam durch den Garten langsam und behaglich auf den Kaffeeplatz zu. Hcrdith ging den beiden, lieben Menschen entgegen: „Ihr schrecklichen Leute, was habt ihr bloß immcrfmkt zu reden? Da sagt man, die Frauen werden nicht fertig mit dem Reden, dabei macht ihr es noch viel langweiliger!" „Wenn nur bei euch Frauen so viel Gescheites heraus kommt wie bet uns", meinte Onkel Heinrich und klopfte Herdith vergnügt auf die glühende Wange. „Na, und was ist Gescheites herausgekommen?" Hcrdith gab erst Onkel Heinrich einen Kuß. Dann schmiegte sie sich innig an Jobst. „Was dabei herausgekommen ist?" fragte Jobst. „Darf ich mich dir vorstellen, Herdith? Jobst Reichardt, ab ersten Oktober Nachfolger von Herrn Sanitätsrat Keunecke, Braunschweig." „Jobst?!" Herdith sagte es jubelnd. Und dann fiel sie Onkel Keunecke um den Hals und küßte ihn glückselig ab. „Da werde ich ja ganz eifersüchtig", schalt Jobst lachend. „Ich dachte, Eifersucht hättest du dir abgewöhnt, mein Lieber." Herdith versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. „Und übrigens: diesen Herrn hier kenne ich viel, viel länger, als ich dich kenne. Nicht wahr, Onkel Heinrich?" Sanitätsrat Keunecke sah mit frohen Augen von einem zum andern. „Kleine Herdith, ich glaube, so ganz richtig kennen wir uns erst jetzt. Jetzt wissen wir erst, wie wir alle drei zusammengehören, und was wir zu tun haben." „Zunächst mal Kaffee zu trinken, Onkel", erklärte Hcrdith und stützte sorglich den alten Herrn. „Dem heutigen Tag zu Ehren auch einen richtigen Bohnenkaffee. Der Herr Doktor hat's erlaubt." JMt nickte. „Jawohl, ich glaube, man kann dich jetzt bald gaüz gesund schreiben, Onkel Heinrich." Das zufriedene Gesicht des alten Herrn wurde bei diesen Worten ernst. Er wußte besser, daß man ihn nicht mehr gesund schreiben konnte. Daß es eines Tages plötzlich zu Ende sein konnte. Aber jeden Tag, den er in der Liebe der Kinder genießen konnte, wollte er dankbar als ein un verdientes Geschenk der Vorsehung hinnehmen. Auf einen friedlichen Lebensabend hatte er kaum noch zu hoffen gewagt. Und jetzt wurde er ihm in solch reicher Fülle beschert. Sidonie war wieder in ihrem Stift. Das Unglück mit ihrem Sobn hatte sie still und demütia aemacht. Es I hatte nach der Genesung des SanttütSratS eine lange Aussprache mit Sidonie gegeben. Er hatte ihr verziehen. Sie hatte ja aus irregeleiteter Mutterliebe gehandelt. DaS Verzeihen würde ihm leicht, denn für alles Leid und Ungemach war ja nun Herdith ihm wiedergeschenk Cie wollte bei ihm bleiben, bis im Herbst Jobst Reicha«» ganz nach Braunschweig ziehen würde. Dann sollte das junge-Paar dey ersten Stock des Hauses beziehen, uns Johst sollte allmählich durch ihn in seine Praxis ein- ! geführt werden. Er hatte dem neuen Neffen schon medizinisch gehörig auf den Zahn gefühlt, und er wußte,I er konnte keinen besseren Nachfolger finden als diesen! klugen, verantwortungsbewußten Menschen, der vor allem! die wichtigste Gabe für seinen Beruf mitbrachter ein mit-! fühlendes Herz, und Liebe zu den Menschen. „Du stehst ja so ernst aus, Onkel?" fragte Herdith besorgt. „Ist dir etwas?" „Nein, Kind! Ich dachte nur so über Vergangenhch und Zukunft nach. Aber nun zu euch! Wan» wollt ihr denn nun endlich heiraten?" „Das wollen wir heute abend mit Rolf Megede und Deta besprechen. Wir möchten gern ^ine Doppelhochzeit machen. Vielleicht Mitte September, Onkel. Dann können Jobst und ich noch vierzehn Tage auf Hochzeitsreise gehen." „Aber daß ihr mir pünktlich am ersten Oktober zurück seid", sagte der alte Sanitätsrat, „ich kann euch durchaus! Rcht länger entbehren." Hcrdith umarmte den alten Herrn: „Vorläufig sind wir ja noch gar nicht fort, Onkel. Und sei sicher, wir kommen eher früher, als später. Denn ich glaube: so schön die Welt ist, am schönsten ist es doch - du weißt ja den alten Waülsvruck der Akmullens: .Ob Ost. ob West Tu Hus' am best! Und ich glaube, er wird sich hier auch bald ganz zu Hause fühlen, mein Jobst." Jobst Reichardt nahm Herdiths Hände. „Wo könnte man sich mehr daheim fühlen, Hcrdith, als I hier?! Weißt du, die alte Stadt ist mir schon jetzt in! jedem Winkel so lieb und vertraut geworden, als ob ich I hier grobgeworden wäre. Und das alte Haus" — wil l frohem Blick schaute er auf den breiten Giebel des! Keuneckeschen Haufes, der über den grünen Baumgipfeln! des Gartens auftauchte —, „eine gute Heimat ist dies Haus I und alles, was zu ihm gehört." Er hielt die Hand Herdiths, die andere freie reichte I er dem alten Herrn. Einen Augenblick ging der Strom des gleichen Fühlens durch sie alle. Der Flieder duftete.! Die warme Sommersonne lag über der Welt. Von dem Turm der Martinikirche klang das Läuten der alten Glocken mit dem vertrauten Ton. den Hcrdith nie ver gessen hatte. Uno über allem schwang, wie ein einziger Laut: die Stimme der Heimat.