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(7. Fortsetzung.) Er zog das Blatt näher heran. In einem Ovalbilde sah man vier junge Mädchen im Ruderdreß auf einem Lootsrand sitzen, in ihrer Mitte, von zweien umschlungen, einen jungen Mann, gleichfalls im Ruderanzuge. Dar unter stand: Skull-Vierer „Frohe Fahrt". Die Damen Marion Karnau, Kläre Gratzhoff, Tina Lüders, in der Mitte Fräulein Herdith Atzmussen, Schlagmann des Skull-Vierers neben dem erfolgreichen Trainer Jobst Reichardt. »Na, und?" fragte Sanitätsrat Keunecke noch einmal, setzt mit etwas zitternder Stimme. Da war das Kind, Herdith! Wie fröhlich sie aussah! Wie hübsch selbst auf diesem unscharfen und unretuschierten Bild! Ja, so war sie. Hübsch, sonnig und jung. Wie lieb hatte er sie gehabt! Warum war sie gegangen? Warum hatte sie sich nicht mit Sidonie vertragen können? Das hätte er eigentlich zum Dank für alles, was er für sic getan, erwarten können. Ach, nicht daran denken! Da kam schon wieder diese Be klemmung. Er fuhr sich mit der Hand zum Herzen. Aber diesmal sah Sidonie Testet es nicht. Empört starrte sie auf das Bild. Ihre Nase schien noch spitzer zu werden. „Deine Nichte — nein, noch schlimmer, meine Nichte in einer Zeitung und in solchem Zustande! -Halbnackt, einen fremden Mann umarmend! Es ist unerhört. Was wird nur Ihre Exzellenz im Johanna-Stift sagen, wenn sie dies Bild sicht?" Sanitätsrat Kcunecke lag es auf der Zunge, zu er widern, datz seine Schwester Sidonie sich in der Zeit ihres Stiftaufenthalts wie Hund und Katze mit der alten Exzellenz gestanden hatte, einer reizenden alten Dame übrigens. Aber das patzte auch so zu Sidonies Art, Menschen, die sie sonst nicht leiden konnte, zu Kronzeugen anzurufen, wenn es ihr in den Kram patzte. „Aber liebe Sidonie, von halbnackt kann wohl nicht die Rede sein! Das ist ein Rudertrainingsanzug, wie alle Ruder und Ruderinnen heutzutage...' „Wenn ich sage, es ist halbnackt, dann ist es halbnackt! Oder genügt es dir noch nicht? Nackte Beine, nackte Arme, Hosen wenn ich einem Menschen in meiner Jugend je so unter die Augen gekommen wäre!" „Meines Wissens hast du ja niemals Sportneigungen wie Schwimmen oder dergleichen gehabt." Der alte Herr konnte sich nun doch seinen Spott nicht verkneifen. „Also lag auch keine Veranlassung dazu vor, liebe Schwester." „Verteidige du nur noch die moderne Zeit, das steht dir gerade an! Wenn du nicht immer so für alle Verrückt- heilen der modernen Jugend gewesen wärst, dann wäre deine Nichte, oder vielmehr meine Nichte, vielleicht auch nicht so ein überspanntes, unleidliches Mädchen ge worden." „Gesegnete Mahlzeit!" Sanitätsrat Keunecke stand aus. „Ja, bist vu denn ,«>»? Der Kollege Hübner ha« doch ausdrücklich gesagt, du sollst ordentlich essen, damit du wieder zu Kräften kommst." „Der Kollege Hübner hat vor allen Dingen gesagt, ich soll mich nicht aufregen." „Ja, wer regt dich denn auf?" fragte Sidonie fassungs los. Da fuhr sie zurück und jagte Waldi aus seinem Halb schlaf auf, den er nach erledigter Knochcnmahlzeit unter dem Tisch gehalten. „Du!" brüllte Sanitätsrat Keunecke; wahrhaftig, er brüllte es. Schrie es, stopfte sich seine Zeitungen unter den Arm und verlieb den Raum. Sidonie wollte ihm nach. Aber Waldi, in dem instink tiven Gefühl, wie Hunde es für ihren Herrn haben, spürte: Nun war seine Stunde gekommen. Er fuhr gerade unter dem Tisch hervor, als Sidonie ihrem Bruder nach wollte. Sidonie, kurzsichtig, stieb an ihn an; cs tat nicht weh, aber Waldi heulte gräßlich auf. „Du abscheuliches Vieh!" Sidonie fuhr zurück, dann holte sie zum Schlage aus. Aber Waldi war schneller, er raste mit fliegenden Ohren an seiner Feindin vorüber; Herrchen hatte ja die Tür offen gelassen. Ehe Sidonie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, war Waldi auf und davon. Und in Sanitätsrat Keuneckes Arbeitszimmer wurde der Schlüssel energisch im Schloß hernmgedreht. Waldi aber verzog sich befriedigt in die Küche. Bei Martha, dem kleinen, verschüchterten Hausmädchen, fand er immer Verständnis, Freundlichkeit und etwas, was cr am meisten schätzte: etwas zu fressen. Sidonie Tcssel aber begab sich, in tiefster Seele ge kränkt, zu ihrer augenblicklichen Busenfreundin, Frau Mathieß nebenan, um ihr von diesem Auftritt zu berichten. Es war wirklich unerhört, diese Affenliebe zu Herdith machte den guten Heinrich immer noch verdreht! Dabei war Herdith in Sidonies Augen ein Schandfleck dcr Familie. Konnte sie nicht dankbar sein, daß sie, die eltern lose Waise, hier im Hause des Onkels ein Unterkommen gefunden? Hatte sie nicht die Pflicht gehabt, bescheiden und ohne viel zu mucksen hier haustöchterliche Pflichten zu »vernehmen v Hätte sie nicht froh fein müssen, in ihrer Tante Sidonie eine Lehrmeisterin in allen häuslichen Tugenden zu finden? Aber nein, sie hatte selbständig sein wollen. Sie hatte erklärt, sie fühle sich überflüssig, da das Hauswesen ja doch nur von Tante Sidonie geleitet werde und überdies Martha vorhanden wäre. Um nur ein bißchen Staub zu wischen, zu stopfen und Handarbeiten zu machen, dazu fühle sie sich zu jung und tatkräftig. „Das Kind hat ganz recht", hatte Heinrich Keunecke erklärt und erlaubt, daß Herdith auf die Handelshochschule ging, Vorlesungen hörte, Sprachkurse besuchte und ihr Examen machte. „Du wirst ja sehen, was du davon hast", hatte Sidonie prophezeit. Ihr lag nichts daran, daß die Nichte aus dem Hause ging. Sie brauchte immer Menschen um sich herum, die sie tyrannisieren konnte. Im Stift hatte sie das mit mehr oder weniger Erfolg versucht. Nun war ihr Bruder, krank und von Natur gegen einen robusten Menschen schwach, ein willkommenes Objekt ibrer krankhaften Herrschsucht. Aber Herdith, die nach Tante Sidonies Meinung eigentlich verpflichtet gewesen wäre, sich allen Launen der Tante zu fügen, hatte sich keineswegs einschüchtern lassen. Es war zu immer heftigeren Kämpfen gekommen, dis Herdith aus Rücksicht auf Onkel Heinrich möglichst vor ihm zu verbergen trachtete. Aber sie sah ein, es ging auf die Dauer nicht. Ihre und Tante Sidonies Ansichten platzten immer wieder aufeinander. „Ein junges Mädchen tut dies nicht — ein junges Mädchen tut das nicht", damit hatte Sidonie immer wieder versucht, Herdiths gesunden Drang nach Selb ständigkeit zu unterdrücken. Ein paar Dinge waren dazu- gekommen, die Heinrich Kcunecke bis jetzt nicht wußte, und die Herdith ihm rücksichtsvoll verschwiegen hatte. Aber eines Tages, nach dem bestandenen Sprachlchrerinnen- examen, hatte sie Onkel und Tante vor die Tatsache gestellr, sie ginge nach Berlin. Sie hätte eine Stellung als Sekretärin. Heinrich Keunecke, der nicht wußte, was sich während seiner Krankheit abgespielt hatte, war in tiefster Seele gc- lroffen. Herdith war ver einzige Lichtblick in seinem Hause, das seit Sidonies Einzug zu einer Stätte des Un friedens geworden. Zum ersten Male, datz er scharf gegen seinen Liebling wurde. „Entweder du bleibst hier, oder wir sind geschiedene Leute", hatte er ihr erklärt. Aber Herdith hatte, bleich, traurig, aber fest, immer wieder das eine gesagt: „Es mutz sein, Onkel. Ich kann nicht hierbleiben, glaub es mir! Es ist besser für uns alle» wenn ich gebe." Und dann war sie gegangen. Heinrich Kcunecke hatte sich eingcschlossen an diesem Morgen, als sie fort wollte. Er hatte ihr nicht Lebewohl gesagt. Wie eine Fremde war sie aus dem Hause aeaangen.