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PROGRAMM EINFÜHRUNG Vissarion Shebalin widmet seine 3. Sinfonie .dem größten Sinfoniker, den Rußland augenblicklich be sitzt: Dimitri Schostakowitsch. Es ist eine Geste freundschaftlicher Zuneigung und herzlicher Ka meradschaft. Shebalin ist jedoch anders als Künstler als das Naturtalent Schostakowitsch. In Shebalins Schaffen spielt der ordnende Verstand, die formende Geistigkeit eine große Rolle. Wir Deutschen neigen leicht dazu, ein Talent zu bewundern, das die Form beherrscht. Sehen wir doch in der Form den Aus druck für einen gestalteten Einfall, für ein ver arbeitetes Gefühl, für ein gebändigtes Erleben. Shebalin ist ein Könner sehr großen Formats; und als Direktor des Moskauer Konservatoriums kann er seine eminente formale Begabung und sein Können dem Nachwuchs der russischen Komponisten über mitteln. Diesem Können begegnen wir in seiner 3. Sinfonie auf Schritt und Tritt. Klar abgesetzte Themen gliedern den 1. Satz, der sich streng an die klassische Form des Sonatenschemas hält. Das große Orchester wird voll und mit all seinen Möglichkeiten eingesetzt — auch hier verrät Shebalin seine geistige Überlegenheit. Das Thema des zweiten, des lang samen, Satzes, an den beiden fallenden Quarten des Kopfmotives erkenntlich, erscheint auch im Schluß satz wieder, der die Kunst Shebalins wohl am besten beweist, Die langsame Einleitung dieses Satzes setzt zu einer Passacaglia an, aber das Allegro assai ver arbeitet sofort das schon im langsamen Satz auf getretene Thema in einem Fugato, in dem Shebalin alle kontrapunktischen Künste der Spiegelung, der Umkehrung, der Engführung, der Vergrößerung, der rhythmischen Veränderung des Themas spielen läßt, ohne gekünstelt zu erscheinen. Ein grandioser Schluß auf einem Orgelpunkt krönt diesen Satz und das ganze Werk, das außerdem noch ein spritziges Scherzo enthält mit viel Geist, kecken Einfällen, rhythmisch-launischen Verschiebungen und einem durchsichtigen, klaren Klangbild, das sich überdies im ganzen Werk einer neuen Sprache bedient. Die Sinfonie ist bewunderungswürdig, sie zeigt nicht nur die große Könnerschaft seines Schöpfers, sondern auch den Reichtum an Geist, der im russischen Volke schlummert. Wenn Richard Strauß Till Eulenspiegels lustige Streiche in Töne umsetzt, dann tut er es, da er sich Till Eulenspiegel innerlich verwandt fühlt. Till ist uns lieb, weilsein Humor nicht plump, sein Ulk nicht grob und derb, seine Scherze nicht gemein sind. Im Gegenteil: seine Lausbübereien sind witzig, seine Streiche geistvoll, seine Narreteien haben eine echte Lustigkeit an sich. Dieses Element hat Strauß an geregt, die geniale sinfonische Dichtung zu schaffen. Großartig ist schon der Einfall, die Rondoform zu wählen und sie mit einer so musikantischen Fülle zu überschütten. Dieses Werk allein, 1895 geschrieben, müßte unser Bild von der Fin-de-siöcle-Kunst- korri gieren, die nicht nur dekadent gewesen sein kann, wenn sie ein so vollblütiges, pralles Werk hervor bringen konnte. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll an diesem Werk und an seinem Schöpfer: die instrumentalen Künste, die schon bald Teufeleien sind, die Gabe der Drastik. mit der Strauß die verschiedenen Situationen schildert, oder den Reichtum an geistvollen Wendungen und Veränderungen der musikalischen Substanz. Es ist alles da, was ein Musikerherz erfreuen kann aber es ist noch mehr da: nämlich eine erfrischende Naivität, die alle Künste vergessen läßt und eine befreiende Hingabe an das Werk und seinen Humor erzwingt. Dieser Triumph der Heiterkeit allein ge nügte, Richard Strauß unsterblich zu machen. Alexander Glazbunow lernte zwar bei Rimskv- Korsakow, löste sich aber bald von den Idealen los die sein Lehrer vertrat und die er in der Kunst der russischen Novatoren (Balakirew, Cui, Borodin, Mussorgski, Rimsky-Korsakow) verwirklicht fand. Er strebt einer formfesten und „absoluten“ Musik zu, er greift klassische Formprinzipien auf und gießt in sie einen Inhalt hinein, der trotz allem nicht dem Streben und der Richtung seiner Zeit fernsteht Spätromantische Klänge, verbunden mit klassischen Formtypen, stempeln Glazounow zu einem liebens werten Eklektiker, dessen Können über allen Zweifel Erhaben ist. Das 1904 geschriebene Violinkonzert op. 82, einsätzig, etwa einer sinfonischen Dichtung zu vergleichen, besticht durch eine blühende Melodik, die sich nicht nur im Soloinstrument, sondern auch im Orchester entfaltet. Dem Solisten bietet dieses Werk, das dem damaligen berühmten Geiger Leopold Auer auf den Leib geschrieben ist, die reichsten Möglichkeiten der Entfaltung seines Könnens. Viele Melodien erheischen einen großen, runden Ton. Das Virtuose kommt jedoch nicht zu kurz: Doppelgriffe, brillante Läufe, Flageolettöne, Pizzikatoeffekte sind in die Solostimme eingefügt und bieten viel Gelegenheit einer aufs Höchste entwickelten Tech nik Es ist verdienstvoll, dieses selten zu hörende Werk in Dresden in Erinnerung zu bringen. Joh. P. Thili