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101 Nachdruck verboten. Die See ging noch ziemlich hoch. Jürgens Helfcrdienstc waren sehr unfachmännisch. So kam es, daß sic ihren Kahn höchst unglücklich auf den Strand brachten. An einem unsichtbaren, vom Wasser überspülten Felsblock zerbrachen einige der festen Latten wie Streichhölzer, und fast alles, was an Bord sich befand znrücklassend — nur die Kassette bergend —, gelangten sie mühsam und unter Gefahren ans Ufer. Aber die Sonne meinte cs gut mit ihnen. Sic trocknete ihre Kleider. Jürgen holte auS einem nahen Dorf etliche Lebensmittel, und sic machten sich auf die Wanderung in das große, einsame Waldgebict. Aber vas Pech wollte sie nicht verlassen. Piter ver stauchte sich den rechten Fuß — und Jürgen schleppte ihn mühsam zu der kleinen Waldhüttc, die augenscheinlich ver lassen war, und die er — ein Glück im Unglück! — auf einer Streife entdeckt hatte. Hier konnte sich Piter aus- heilen, und sie waren vor der schlimmsten Unbill der Witterung geschützt. Nahrungsmittel hatten sic ja für einige Tage zu- sammcngcholt. Jürgen ging auch und sammelte von den wilden Beeren, die es so zahlreich gab; ihre gefundenen Gelder, sorgfältig in Piters Nock verwahrt, konnten zur Zeit zwar nichts nützen, aber wer weiß, wozu sic eines Tages gut sein würden! Auf alle Fälle wollten sic sich jedoch auf die Namen nennen, über die Piter wenigstens einen glaubhaften Ausweis besaß. Sicher ist sicher! Mit seinem Samariterdienst beschäftigt, war Jürgen so in sich nnd die nächste Umgebung vertieft, daß er die zierliche Person nicht bemerkte, die ihn und die Hütte schon eine Weile von weitem gesichtet hatte — und nun zögernd näherkam. Er schrak regelrecht zusammen, als er plötzlich, mehr frisch als zaghaft, dennoch mit leisem Vorbehalt, nicht allzu fern von sich, den in dieser Einsamkeit befremdlich klingenden Gruß vernahm: „Guten Abend!" Er richtete sich auf. „Dun...", begann er. Aber sich besinnend, machte er eine sehr weltmännische Verbeugung. „Guten Abend! Was verschafft mir das Vergnügen?" „Wir haben uns verlaufen — ich und mein Begleiter. Können Sie mir vielleicht sagen, wie weit cs noch bis Saßnitz ist?" „Bedaure. Ich bin selbst fremd in der Gegend!" „O! Touristen? Wie wir? Das ist ja fein!" Nus der Tiefe der Hütte erscholl eine energische Stimme. „Mensch, stell dich doch vor!" „Ja, gewiß. Entschuldigen Sic bloß, Fräulein — gnädiges Fräulein", verbesserte sich Jürgen, dem cinfiel, daß das die Anrede unter „besseren Leuten" sei. „Professor Giseler!" „Wie bitte?" sagte das junge Mädchen und blickte ihn verblüfft an. „Professor Giseler aus Rostock! Ja, wie ein Herr Professor sehe ich augenblicklich nicht aus. Aber wenn ich in Kluft bin... Fein, sage ich Ihnen, Fräu... — gnä diges Fräulein! In Rostock laufen mir die Mädels man so nach!" „Das kann ich mir vorstellen, Herr Professor", sagte das zierliche Persönchen — und es fiel Jürgen auf, daß ihre Gesichtszüge etwas eigenartig Strenges hatten und ihre Augen gar nicht lachten, trotzdem sie so jung war. „Was lesen Sie denn?" „Gott, Fräu... gnädiges Fräulein", sagte Jürgen und setzte sich gemütlich auf einen Baumstumpf — ihm war so recht nach einer Plauderstunde zumute. „Wir ge lehrten Leute, wir spannen auch mal gerne aus. Ich arbeite hier für meinen erkrankten Freund. Per Macke prang, Großhändler in Getreide und Mehl. Der arme Kerl hat sich den Fuß verknaxt. Wir spielen hier Robinson. Ich bin Freitag. Aber lesen? Wir haben gar keine Bücher mit. Und der Postbote kommt hier nicht her. Zeitungen glbt's gar nicht." „So! Wo ist denn Herr Mackeprang?" „In der Bude da. Wollen Sie ihn mal besuchen? Per, wie ist das? Kannst du Damenbesuch gebrauchen?" „Memal!" tönte er vergnügt zurück. „Vielleicht", sagte das junge Mädchen, das in seinem sehr ramponierten Strandanzug zwar wenig salonmäßig aussah, aber doch in ihrem ganzen Wesen verriet, daß sie nicht etwa „hergelaufen" sei, „suche ich erst meinen Vandergefährten zu treffen. Wir haben uns getrennt, -reil wir uns so völlig verlaufen hatten. Aber wir finden Ms wieder. Wir haben eine Stelle verabredet. Haben Me etwas zu essen für uns? Kochgeschirr hätten wir. Doch Geld gar nicht. Wir haben schon alles verbraucht. W An stellenlose Kontoristin. Und mein Freund stellen- Wser Geschäftsreisender. Da können Sie sich vorstellen.. „Verstehen wir!" begönnerte Jürgen die Sachlage. «Missen Vie was, Fräulein — gnädiges Fräulein..." „Ra, lassen Sie es schon bei »Fräulein'... Was bin »LH'WttzßNch gegen einen Herrn Professor?" »Na, Wie Sie wollen. Ist ja auch gemütlicher. Aber Me Knuten uns ein bisschen was zu essen mitbringen. WWir^SkKn Sie dann auch mithalten!" „Aber woher?" Jürgen beschrieb, wo in verhältnismäßiger Nähe ein Forsthaus lag. „Eier und ein büschcn Brot. Butter! Und was sie rausrückcn wollen. Per kann sich nicht rühren. Ich lasse ihn nicht gern allein!" „Darf ich mich auf Herrn Professor Giseler berufen?" „I warum nicht!" „Und Geld?" „Per?" fragte Jürgen über die Achsel in die Hütte hinein. „Ich hab' noch Kleingeld. Gib ihr 'nen Fünfziger?" Jürgen verschwand und kam mit einem Fünfzig-Mark- Zchein zurück. In den Augen des jungen Mädchens blinkcrte cs. „Und wenn ich — nicht damit zurückkämc?!" „Buchen wir's als Geschäftsunkosten. Aber so sehen wir ja gar nicht aus, Fräuleinchen! Wir sind doch alles ehrliche Leute!" „Also bis gleich!" sagte Luzie und eilte davon. Es war ihr doch ein bißchen unheimlich. Allein — mit nachweislich verbrecherisch veranlagten Leuten! Seit sie Puttgarten verlassen, müde und zerschlagen - als ob nicht sie das Holz, sondern das Holz s i e klein gekriegt hätte! —, waren sic nm vieles klüger und er fahrener geworden. Zunächst hatte Per ihr aufs strengste verboten, weiter hin so „unverschämt" zu lügen. „Mit der Wahrheit kommt man immer am weitesten!" Sie waren bis Breege gewandert, und dort hatte Per in einem guten Hotel, unter wahrheitsgemäßer Darlegung oer Umstände, um Quartier und ein Darlehen von hundert Mark gebeten. Hohnlächelnd hatte man ihnen die Tür gewiesen! Und nicht nur in dem einen Gasthof! Schließlich hatten sic sich als mittellose Wandervögel ansgegeben, die für ein Abendessen und Nachtquartier Lieder spielen und singen wollten. Da war es geglückt! „Siehst du!" sagte Per, denn er hatte sich gar nicht klargemacht, daß diese Angaben auch auf Unrichtigkeit be- ruhten. „Siehst du!" sagte Luzie, um ihm klarzulegen, daß man mit der Wahrheit nicht immer am weitesten kommt. So glaubte jeder, recht zu haben. In Sagard, wohin sie teils zu Fuß, teils auf einem Lastauto gekommen waren, dessen freundlicher Chauffeur sie zum Mitfahren ungebeten eingeladen hatte, endlich gelang es Luzie, zu einer Postkarte zu kommen und nach Stralsund um Geld und Kleider zu schreiben. Denn mit wahrhaft rührender Vorsorglichkeit enthielt man ihnen überall bares Geld vor, so gern man sie ab und zu auch mit Speise und Trank versorgte, ja, ihnen sogar Quartier bot... Aber an ihren Groschen schienen die Leute mit aber gläubischer Inbrunst zu hängen. Oder vermuteten sie, daß zwei oder drei gereichte Geldstückchen die jungen Menschen zu Orgien des Ueberflusses hinreißen würde»? Luzie nahm kurz entschlossen den neuen Aluminium topf, den Per mit löwenhaftcm Mut verteidigt hatte, ging in den nächsten Laden und bat: „Geben Sie mir doch für diesen Kochtopf eine Postkarte!" Auf diese Weise erhielt sic das Gewünschte und durfte sogar, ganz wie sie erwartet, das Geschirr behalten. Als man aber sah, was sie schrieb, wurde man noch freund licher und gab ihr noch eine Tafel Schokolade, die sie nnd Per nur zu gut gebrauchen konnten. Per wußte freilich nichts von ihrer Korrespondenz, aber auch er strebte nach Saßnitz. Dort hatte er einen Be kannten, der ihm aushelfen werde. Von Sagard wanderten sie dann in das große Wald gebiet hinein. Sie suchten sogar den Herthasee auf, obwohl der gar nicht an ihrem Wege lag. Sie vertrödelten dort die Zeit, trotzdem sie sich von dem See nur enttäuscht fanden, ver loren den Weg und trennten sich, um ein wenig aus zukundschaften. Ein verabredeter Pfiff sollte sie wieder zusammenführen; die Trennungsstelle sollte der Punkt sein, wo man sich — in etwa zwanzig Minuten — wieder träfe. In Wahrheit zu sagen, fiel Luzie Per mehr und mehr auf die Nerven. Seine anfängliche Verliebtheit wich um so mehr, als er einsah, daß seine ernstgemeinten Bekehrungsversuche bei dieser jungen Sünderin durchaus ohne Erfolg bleiben würden. Er fürchtete außerdem, sich auf irgendeine Weise mit ihr zu kompromittieren. Konnte sie nicht jederzeit „geschnappt" werden? Auf alle Fälle würde sein Name dann durch alle Zei- tungen gezogen werden. Der Name des Großhändler- sohnes Mackeprang auf Fehmarn. Nein, das mußte ver mieden werden. Kaum hatte Per sich also von Luzie getrennt, als er anfing, rüstig fürbaß zu schreiten, nach Süden. Da lag auf alle Fälle Saßnitz. Er würde schon hinkommen. Es war unfair gegen Luzie gehandelt, ja. Er machte oarin mchis vor. Aber w ar Luzie eine DaKe, auf, die man Rücksicht zu nehmen verpflichtet sein komteZ Jedes einfache Mädchen zu schützen wäre Kavalier- Pflicht gewesen — aber eine gewohnheitsmäßige Mr- brecherin? Sic hatte ihm »och mehr und Einzelneres von ihrer Bande — Fünf Männer und ein halber — erzählt. Details, die einfach nicht erfunden werden konnten. Seine anfänglichen, leisen Zweifel waren längst gewichen. Ucberhaupt: das tut keiner, sich für so etwas ans zugeben, ohne es zu sein. Nein! Wenn sie gesagt hätte, sie wäre eine Prinzessin: niemals hätte er das geglaubt. Aber so? Und er hatte sein Ehrenwort gegeben, sie nicht zu verraten! Mitgefangen hätte mitgehangen bedeuten können. Daß das nicht geschah, war er seinen Eltern schuldig! Ohne weitere Gewissensbedenkcn eilte er fort. Bloß dies Mädchen nicht Wiedersehen! Luzie wartete und wartete. Sie pfiff sich die Lippen lahm. Kein Mißtrauen kam in ihr hoch. Aber schließlich wurde ihr die Sache zu dumm. Sie sammelte Tannenzapfen und legte sie in der Form eines XV unter die große Tanne, die, vereinzelt zwischen lauter Buchen, als Treffplatz verabredet war. „Warte", sollte das andeuten. Er würde ja Wohl verstehen? Konnte allerdings ab und zu recht doof sein, der Per — aber s ö doof! Dann suchte und fand sie die Försterei. Nach einigem Hin und Her gab die Förstersfrau ihr das Gewünschte, dazu sogar, durch den Anblick des Fünfzigmarkscheines gerührt, noch ein ansehnliches Stück Schinken. Luzie, ausgehungert wie sie sich nach dem vielen Mar schieren fühlte, trank Milch und aß nach Herzenslust von dem schönen Butterbrot, das man ihr anbot. Sie bekam es sogar gratis. Allerdings hielt sich die Förstersfrau bei den Preisen für die anderen Sachen durchaus schadlos. Luzie wanderte zurück — und war erstaunt, Per immer noch nicht zu finden. Hoffentlich hatte er die beiden Diebe nicht ebenfalls getroffen und sich mit ihnen in Vcrhand- lnngen eingelassen. Lnzie halte so ihren Plan: sich gut gläubig tun und dann die beiden der Polizei zuführen. Hinterhältig! Gewiß! Aber was blieb übrig?' Wieder wartete sie eine Viertelstunde. Dabei pfiff sic aus Leibeskräften. „Ich schieß den Hirsch. ." „Im wilden Forst", tönte es zurück Erleichtert atmete sie auf. „Hier, hier", rief sie laut. „Hier bin ich!" Aber nicht Per, sondern der „Herr Professor" erschien und kam mit großen Schritten auf sie zu. „Ach", sagte Luzie. „Denken Sie sich, mein Kamerad ist noch nicht wieder da!" „Der ist Ihnen wohl untreu geworden?" meinte Jürgen und grinste wie einer, der Lust hat, jemands Nachfolger zu werden. „So gemein kann gar kein Mensch sein!" fugte Luzie überzeugt. „Nein! Denn sehen Sic, wir sind Wander gefährten, sonst nichts, lind wir haben allerlei mitein ander erlebt. Dann läßt man sich nicht im Stich Er wird doch nicht etwa gefallen sein nnd ein Bein gebrochen haben?" Der „Dieb" hälf nun in aufopferndster Weise, den Ge suchten zu finden. Aber cs war veraeblich. Per blieb ver schwunden. Luzie war ehrlich verzweifelt. „Er wird denken, ich lasse ihn im Stich. Wer weiß, wo er mit Schmerzen liegt und auf mich wartet!" „Wenn er schon ein Bein gebrochen hätte, so würde er doch auf unser Hallo antworten können! Also hat er sich entweder das Genick gebrochen — dann können wir ihm nicht mehr helfen. Oder er ist aus und davon. Und dann wäre es am besten, Sie kämen mit mir. Es fängt ja schon ganz stark an, dunkel zu werden. Da können Sie wirtlich nicht allein weiterwandern. Und es wird ja nicht so wichtig sein, ob Sie heute oder morgen nach Saßnitz kommen!" Jürgen sagte es so treuherzig, daß Luzie richtig Ver trauen empfand. Aber sie warnte sich. Bedenklich zögerte sie mit der Antwort. „Sie können es ruhig wagen, Fräulein. Ihnen ge schieht nichts!" sagte Jürgen verständnisvoll, doch ver legen. Luzie schüttelte den Kopf. „Ich finde Sie wirklich sehr nett, Herr Professor", meinte sie — und sprach ganz ehrlich. Wie können solche Schufte nur menschlich so etwas Sympathisches haben!, dachte sie verwundert. „Doch es geht nicht. Sie könnten mir aber viel helfen, wenn Sie mir ein bißchen vertrauen. Ich könnte zur Försterei zurückgehen und da um ein Quartier bitten. Dazu müßten Sie mir aber ein paar Mark leihen. Vielleicht fünf oder sechs Markl Ich bin gewiß nicht so arm, daß ich sie Ihnen nicht wiedergeben könnte. Glauben Sie, daß Sie das tun werden?" „Aber ganz sicher", sagte erfreut Jürgen. „Auf den Gedanken hätte ich wirklich auch selbst kommen können. Manchmal ist man aber doch auch wie mit dem Dumm- beutel geschlagen!" Junge, Junge, dachte Luzie, d i r würde man den Pro fessor grade glauben — auch, wenn man das Originäl nicht kennte. Sie reimte sich ganz richtig zusammen, wies» er zu der Nolle kam. Zusammen brachten sie dem falschen Per die Speisen, und man hielt ein gemütliches Plauderstündchen. Die beiden „Diebe" benahmen sich so taktvoll und fein, daß Luzie immer weniger begriff, wie verworfene Men schen, die bedenkenlos andere derartig in Verlegenheit brachten und das doch nicht aus Not getan zu haben schienen, so angenehm im Wesen sein könnten. Einfach, natürlich, bescheiden und zuvorkommend. Ihre Rollen spielten sie freilich sehr schlecht. (Fortt, lolat.i