Volltext Seite (XML)
Johannes Brahms. Robert Schumann machte in einem Aufsatz: „Neue Bahnen“ (1853, Zeitschrift für Musik) auf Johannes Brahms (1833—97) als einen ganz außergewöhnlichen Mu siker aufmerksam; und Brahms wurde dadurch mit einem Schlage bekannt. Seine Stellung in der Musikgeschichte ist allerdings dann nicht die eines Tonsetzers ge worden, der die Musik in „neue Bahnen“ lenkte, sondern vielmehr die eines verspä teten Klassikers, der nur neuen Inhalt in die alten, feststehenden Formen goß. Aus einem kleinen, musikalischen Kern (Motiv, Thema) durch alle erdenklichen Satzkünste ein großes Gebilde zu entwickeln, so wie es unübertrefflich in Beethovens 5. Sinfonie geschehen war, das ist auch Brahms Stärke. Gerade in seiner Sinfonie Nr. 4 (E-Moll), seiner letzten und reifsten Sinfonie (entstanden 1884/85) ist diese Schaffensweise besonders gut zu beobachten. Dem seelischen Gehalte nach kann man in diesem überwiegend herben, ernsten Werke einen Gesang von der Vergänglichkeit alles Irdischen sehen. 1. Satz: Allegro non troppo (nicht zu rasch). Das schlichte liedartige Hauptthema setzt ohne Einleitung sofort in den Violinen ein, wird von den Holzbläsern und Bässen übernommen und erhält in einem rhythmisch markanten, ritterlichen Fanfarenthema der Hörner und Holzbläser einen interessanten Gegensatz. In der beide Themen verarbeitenden Durchführung behält der Gegensatz das Uebergewicht. Die dann folgende Wiederholung des ersten Teiles führt in leidenschaftlicher Steigerung den Satz zu Ende. 2. Satz: Andante moderato (ruhig-gemäßigtes Zeitmaß). Altertümelnder Charakter; balladenhafte, romantische, frohe und wehmütige Stimmungen gehen von dem auf älterer Harmonik aufgebauten, den Satz beherrschenden Thema aus. 3. Satz: Allegro giocoso (scherzhaft bewegt). Ein wilder, knorriger Humor mit dämonisch-grausigem Unterton, nur vorübergehend von freundlicheren Lichtern unterbrochen, gibt dem Satz sein ganz eigentümliches Gepräge. 4. Satz: Allegro energico e passionato (entschlossene und leidenschaftliche Bewegung). Flammenschriftartig stellen am Anfang sämtliche Bläser ein fast drohendes, mahnendes Thema hin. 32 kunstvolle Veränderungen des Themas bilden den weiteren Inhalt des Satzes. Die Mystik mittelalterlicher, düsterer Dome scheint inTönen ausgedrückt, zugleich der Geist der Unerbittlichkeit gewaltiger Schicksale. Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 (B-Dur) ist im Gegensatz zur 4. Sinfonie und auch zum 1. Klavierkonzert (D-Moll) leichter verständlich und freundlicher gehalten. 1881 vollendet, unterscheidet es sich durch seine Viersätzigkeit von der üblichen dreisätzigen Konzertform. Der 1. Satz, Allegro non troppo (nicht zu rasch), lebt von breit ausgesponnenem Wechsel lyrischer und hel discher Stimmungen. Eine gewisse, gefestigte Heiterkeit beherrscht beide. Das Klavier ist im Wettstreit mit dem Orchester gleichberechtigter Faktor. Unwirsch, dämonisch, trotzig hebt der 2. Satz, Allegro appassionato (leidenschaftlich bewegt), an. Doch ein edel volkstümlicher Sang der Violinen und Bratschen sucht die un gebundene Kraft zu mildern. Es gelingt nur vorübergehend; denn die unruhigen Geister gewinnen fast noch energischer wieder die Oberhand. Im 3. Satz, Andante (gehend), hat das Klavier mehr die Aufgabe, die Orchesterthemen spielerisch zu um ranken. Solocello und Klarinette führen daneben bedeutsam das Wort. Der Charakter ist überwiegend lieblich-mild. Der 4. Satz, Allegretto grazioso (anmutig bewegt), fließt frisch und heiter dahin, getragen teilweise von ungarisch rhythmisierten Melodien. Ouvertüre Leonore Nr. 3 ist die bedeutendste der vier Ouvertüren, die Beethoven (1770—1827) zu seiner einzigen Oper: Fidelio (Leonore) schrieb. Der Idee der Oper: die Errettung des Märtyrers Florestan aus verruchter Tyrannenhand durch die aufopfernde Treue seines Weibes Leonore will auch die Ouvertüre zu tönendem Ausdruck verhelfen. Die langsame düstere Einleitung mit der aus ihr herauswachsenden innigen Klari nettenmelodie scheint die Quaien des unschuldigen Gefangenen und sein Flehen um Errettung zu schildern. Der schnellere Hauptteil weckt freundliche Hoffnungen und Ahnungen, aber auch Zweifel. Mitten in den Widerstreit der seelischen’Regungen tönt zweimal ein Trompetensignal, die Ankündigung baldiger Rettung; beide Male feierlich wie durch ein Dankgebet beantwortet. Ein Anhang von ungeheuer mitreißendem Schwung läßt das Werk in höchstem Jubel ausklingen. Dr. Kreiser.