Peter Tschaikowski Es ist eine eigene Stimmung um das letzte vollendete Werk eines Komponisten. Ahnte der Meister, daß es sein „Sehwanengesang“ werden würde? Oder glaubte er, noch mitten im Leben zu stehen? Und wie spiegelte sich alles das in der Musik wider? Von Peter Tschaikowski wissen wir, daß er überglücklich war, nach langen Monaten schwerer innerer Erschütterungen und Depressionen wieder schöpferisch arbeiten zu können. An seinen Neffen Wladimir Dawydoff schrieb der Meister im Februar 1893: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie selig mich die Über zeugung macht, daß es mit mir noch nicht zu Ende ist und ich noch schaffen kann.“ Und ein paar Monate später: „Ich liebe diese Sinfonie, wie ich noch nie eine meiner Schöpfungen geliebt habe.“ Gemeint war die Dawydoff gewid mete 6. Sinfonie, die letzte Tschaikowskis, sein „Schwanengesang“. Dumpf und klagend beginnt die Adagio-Einleitung zum ersten Satz, aus der sich das erregte und leidenschaftlich bewegte Hauptthema des Allegro löst und ent wickelt, ins Große gesteigert, verschwebend und ausklingend. Die weich und sehnsüchtig sich verbreitende Hauptmelodie der zweiten Themengruppe gehört zu den schönsten und ergreifendsten melodischen Einfällen des russischen Meisters. In Durchführung und Reprise wird das Gefühl zu fast rasender Leidenschaft gesteigert. Erst die Coda bringt Beruhigung. Der zweite Satz erinnert an einen wehmütig-sehnsüchtigen Walzer, doch durch den unregelmäßigen 5 /4-Takt (in der slawischen Musik durchaus keine Selten heit!) kommt es zu keiner befreienden Lösung. Auch das Trio - ebenfalls im ungeraden Takt - wird von dieser Stimmung des Verzichts beherrscht. Das Pendeln zwischen Frohsinn und Trauer ergibt einen seltsamen Reiz, dem sich der Hörer nur schwer entziehen kann. Der dritte Satz - im eigentlichen Sinne des Finale - steigert sich zu einem grandiosen Marsch, der von Gegensätzen erfüllt ist: Zarteste Episoden stehen neben wilden Ausbrüchen des Gefühls. Der unerbittliche Rhythmus wird mit nicht erlahmender Energie durchgehalten. Ein faszinierendes Stück Musik, das Tschaikowski jedoch nicht als Finale gelten ließ. Die Sinfonie verklingt in einer Klage: Adagio lamentoso. Ein erschütterndes Selbstbekenntnis. Abschied vom Leben. Worte können hier nichts erklären. Die Musik sagt alles. Am 21. September lesen wir bei Tschaikowski: „Mich verwirrt ein wenig der Umstand, daß meine letzte Sinfonie, die soeben fertig geworden ist, besonders das Finale, von einer Stimmung durchdrungen ist, die derjenigen eines Requiems nahekomint.“ Die Ahnung wurde zur Gewißheit. Am 16. Oktober 1893 dirigierte Peter Tschai kowski die Uraufführung, 6eine „Pathetique“ in h-Moll opus 74 in Petersburg. Zehn Tage später starb der Meister wie seine Mutter an der Cholera. G. Sch.