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auf den ersten Satz, in dessen ersten 21 Takten die ganze Thematik des Werkes im Keime vorhanden ist. Es sind drei Urmotive, die Bruckner da aneinanderreiht. Das erste eine Baßfigur, im Pizzikato der Streicher gespielt, das zweite der auseinander gerissene, in die Höhe stürmende Ges-Dur-Akkord, das dritte wird von einer in drei Sekunden aufwärtsschreitenden Melodie und einem fallenden Quintschritt bestimmt. Von dem ersten Motiv werden alle gleichmäßig rhythmisierten Gänge, vom zweiten alle zuckenden und flatternden Rhythmen, vom dritten alle melodischen Gebilde der Sin fonie hergeleitet. Diese erste Themen-Aufstellung, die der eigentlichen Exposition voraus geht, schließt Bruckner mit einer Generalpause von dem Folgenden ab. Mit diesem Material schaltet und waltet nun der Meister in souveräner Weise. Nicht ein Thema in allen vier Sätzen, das nicht zu einem der drei Urmotive in Beziehung zu bringen wäre. Dadurch wird innerhalb der ganzen Sinfonie ein innerer Zusammenhang geschaffen, wie er andeutungsweise auch schon in den Sinfonien der Klassiker gegeben war. Hier wird dieses Prinzip bis zur äußersten Konsequenz verfolgt. Selbst manche zunächst nur unscheinbar und wie zufällig auftretenden Motive, z. B. ein Septmotiv im ersten Satz, werden später aufgegriffen und gelangen zu höchster Bedeutung. Besonders kunstvoll ist der langsame Satz durchgeführt. In seinem ersten Thema stecken die abfallende Quint- und die Dreiton-Melodie des dritten Urmotivs, außerdem jenes Septmotiv. Die Begleitung aber ist nichts anderes als das Thema seihst, in einer kunstvollen Umschreibung. Im Scherzo ist dann der Baß zunächst notengleich dem des langsamen Satzes und das erste Thema eine Erweiterung des Adagio-Themas. Nur ein Genie wie Bruckner konnte so aus dem gleichen Material zwei völlig konträre Stim mungskomplexe schaffen: Adagio und Scherzo sind doch die größten Gegensätze inner halb der vier Sätze einer Sinfonie. Der Hauptteil des Scherzos ist wiederum in der Sonatenform gehalten, und wie das klassische Scherzo hat auch dieses Brucknersche sein Trio. Im Hauptteil wie im Trio selbst dieser ernsten Sinfonie klingen Tanzrhythmen auf, verwehte Klänge aus dem Land, das uns Anton Bruckner geschenkt hat. Viel Kopfzerbrechen hatte lange Zeit die Form des letzten Satzes gemacht. Das hängt mit dem merkwürdigen Schicksal der Sinfonie zusammen. Was nämlich 1896 in Wien gedruckt wurde, w r ar geradezu ein Zerrbild des Brucknerschen Werkes, war eine Bearbeitung, die Franz Schalk, Schüler und Freund des Meisters, durchaus im guten Glauben und mit guten Absichten (das Werk nämlich den zeitgenössischen Ohren schmackhaft zu machen) vorgenommen hatte. Zu den wichtigsten Änderungen gehört ein großer Strich im Finale, der 122 Takte umfaßte. Davon 86 Takte in der Reprise, die dadurch völlig zerstört wurde. Seitdem wir nun die Sinfonie wieder in der Originalfas sung vor uns haben (und in den Konzertsälen erklingen hören), sehen wir auch die Brucknersche Form des Finales. Es ist die geniale Verbindung von Sonatenform und Fugenform, die Bruckner hier anwendet. Den Höhepunkt des Satzes und der ganzen Sinfonie bildet das als Epilog angehängte, vorher als drittes Thema in der Exposition stehende Choralthema. Das ganze Blech bringt es, die anderen Instrumente kontra punktieren es mit dem ersten Finale-Thema. Und zum Schluß erinnern die Trompeten noch einmal an das erste Thema des ersten Satzes. Die beherrschende Stellung des Choralthemas hat Franz Schalk dazu geführt, daß er es in seiner „Bearbeitung“ einem getrennt aufgestellten Orchester mit Becken, Triangel und Piccoloflöte als eigenen Instrumentationseffekten anvertraut hat. Bruckner hat diese äußere und äußerliche Steigerung nicht nötig und wir bekennen uns zu der Ori ginalgestalt seiner Sinfonie auch an diesem Punkt, wo wir vielleicht lieb und vertraut Gewordenes aufzugeben gezwmngen sind. Anton Bruckner hat dieses sein gewaltiges Werk nicht zu hören bekommen. Als die Sinfonie am 8. April 1894 in Graz unter Franz Schalk uraufgeführt wurde, war er ein kranker Mann und konnte die Reise nicht unternehmen. „Einmal möchte ich sie auch hören“, schrieb er an den Dirigenten, in der Hoffnung, Schalk könnte das Werk auch in Wien dirigieren. Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt. Wie so viel Herbes ist dem Leid geprüften auch dieser Schmerz nicht erspart geblieben. Dr. Karl Laux. M/0252