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erregende Gestalten, am schrecklichsten Kastschei selbst, der voller Zorn den Prinzen in Stein verwandeln will. Da besinnt sich Iwan auf die Feder des Feuervogels: Die Macht der Zauberfeder ist stärker als die Dämonie Kastscheis. Der Feuervogel zeigt Iwan Zarewitsch das Lebensei Kastscheis, das Geheimnis seines ewigen Lebens! Der junge Prinz zertrümmert es. Damit endet das Leben des bösen Zauberers, und zugleich sind auch die dreizehn Prinzessinnen befreit. Der Prinz verlobt sich mit „Tausendschön“. Für die ursprüngliche Konzert-Suite wurde ein Orchester von über 100 Mann gefordert. 1919 instrumentierte Strawinsky die Suite für normales Orchester um, 1945 entstand die letzte Fassung mit dem Titel „Sinfonische Suite“. Wir hören heute abend die meistgespielte Fassung des Jahres 1919. Strawinsky wuchs in seiner Heimat als Sohn eines Opernsängers mit den Traditionen der russischen Musik auf, mit den Opern Glinkas und Tschai- kowskijs, mit den Werken Rimsky-Korssakows, der sein Lehrer wurde. Darüber hinaus lernte Strawinsky die neue französische Musik kennen, die Werke eines Bizet, Gounod und Debussy, natürlich auch die russische Komponistengruppe der „Fünf“, zu der neben Rimsky-Korssakow Mus- sorgsky, Balakirew, Borodin und Cui gehörten. Nicht zu vergessen ist der Einfluß der russischen Folklore. Wenn sich Strawinsky später auch ganz davon löste, als Kind begeisterte er sich an Lied und Tanz des Volkes, und noch später spricht er von dem unlöschbaren Eindruck, den das Singen der Dorfmädchen auf ihn machte. Alle Einflüsse vereinigten sich in der erstaunlich persönlich geprägten Handschrift des jungen Komponisten. Am stärksten wirkte zweifellos das Französische auf ihn, in den markanten Synkopen des tanzenden Kastschei können wir etwas von der stampfenden Vitalität russischer Volksmusik spüren, und doch: Die Aussage ist durch und durch eigen. Die Musik zum „Feuervogel“ ist—bei aller Anlehnung an das Vorbild klassisch-romantischer Meister — nicht eigentlich alt, sie ist aber auch nicht zukunftweisend im revolutionären Sinne, sie ist schöp ferischer Ausdruck der augenblicklichen Situation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so wie es der Meister einmal formulierte: „Ich weiß nicht, was morgen sein wird, ich kann nur für das eintreten, was mir heute als wahr gilt. Dieser Wahrheit zu dienen, bin ich berufen, und ich diene ihr in aller Unbefangenheit.“ Bis in die jüngste Vergangenheit hinein ist Stra winsky dieser Überzeugung treu geblieben. Ähnlich wie Rimsky-Korssakow in seiner Oper „Der goldene Hahn“ cha rakterisiert Strawinsky die Menschen seines Balletts (Iwan Zarewitsch und die Prinzessinnen) durch diatonische Melodieerfindungen, die Märchen gestalten des Kastschei und des Feuervogols durch chromatische Motive, die stark orientalisch beeinflußt sind. Reizvoll die differenzierte Rhythmik, leuchtkräftig die Instrumentierung, impressionistisch schattiert das Klang bild— ein klassisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts!