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Augen dieser Leute ihren alten Rang behalten hatte. Ihr absprechendes Urteil galt besonders der Musik zum klassischen Ballett, und es war all gemeine Ansicht, daß ein ernstbegabter Musiker sich nicht dazu hergeben dürfe, solche Musik zu komponieren. Zu der Zeit, als ich meinen Auftrag von Diaghilew erhielt, vollzog sich jedoch eine große Wandlung des Balletts, dank dem Auftreten Fokins und eines ganzen Bühnenstraußes junger Künst ler, die voller Talent und Frische waren — die Pawlowa, die Karsawina und Nijinsky. Trotz meiner Bewunderung für das klassische Ballett konnte ich dem Rausch nicht widerstehen, der mich beim Anblick der Tänze des .Prinzen Igor“ von Borodin erfaßte. Mich überkam die Sehnsucht, dem engen Kreis zu entweichen, in den ich bis dahin eingeschlossen war.“ Es sollte kein Jahr vergehen, bis Strawinsky diesem „engen Kreis“ ent wich : 1910 tauchte er in Paris auf, und es lag nahe, daß er sich zu Diaghilew wandte, um den sich ein interessanter Kreis von Künstlern geschart hatte: Die Maler Picasso und Matisse, und auch Jean Cocteau gesellte sich hinzu, der einmal bekannte: „Das wenige, was ich weiß, verdanke ich Strawinsky und Picasso. Sie wurden nicht meine Meister, aber das beste Beispiel, die Fehler meiner Jugend abzulegen. Bevor ich ihnen begegnete, begriff ich kaum etwas von meinem Beruf, von meiner Berufung.“ Die Proben zum „Feuervogel“ begannen. „Seht ihn euch an! Er ist ein Mann am Vorabend des Ruhms!“ rief Diaghilew während der Proben aus. Er war stolz auf seine Entdeckung. Diaghilew war ein Fanatiker der intensiven Arbeit. Als sich das Orchester einmal über die allzulange Probenzeit beschwerte, meinte er: „Sagen Sie den Herren vom Orchester, daß sie Künstler sind und keine Fabrikarbeiter. Ich gebe ihnen zehn Minuten Pause — dann werden wir weiterproben, bis wir fertig sind —, vielleicht noch einmal vier Stunden, vielleicht mehr. Ich werde bestimmen, wann Schluß ist!“ Dem Ballett „Feuervogel“ liegt ein russisches Volksmärchen zugrunde, phan tasiereich, poetisch und zauberhaft, zum Nachdenken anregend: Kastschei, ein mächtiger Zauberer und Menschenfresser, hat die Prinzessin Tausendschön geraubt und in seinen Zaubergarten entführt, wo er sie ge fangen hält. Iwan Zarewitsch, ein junger Prinz, will sie befreien. Er fängt den in schönsten Farben glitzernden Feuervogel, dem wundertätige Kräfte nachgesagt werden. Der Vogel bittet den Prinzen um seine Freiheit. Iwan Zarewitsch willigt ein und bekommt zum Dank eine Feder geschenkt. Die Nacht beginnt sich aufzuhellen. Vor dem jungen Prinzen liegt das Schloß des Menschenfressers. Im Parke tanzen dreizehn Mädchen, eine schöner als die andere. Der Prinz steht wie verzaubert. Er kann sich von dem Anblick der Mädchen nicht trennen und verliebt sich in das schönste. Er folgt ihr bis ans Schloß. Auch durch Warnungen läßt er sich nicht zurück halten. Am Tor stürmen die verzauberten Wächter auf ihn ein, grauen-