Igor Strawinsky und sein Ballett „Feuervogel“ Petersburg 1908: Zwei russische Menschen begegnen sich, zwei Künstler, zwei Tänzer. Der eine, Choreograph von hohen Graden und glückhafter Unternehmer, heißt Serge Diaghilew, der andere ist Waslav Nijinsky, ein achtzehnjähriger Solotänzer des Kaiserlichen Balletts in Petersburg, ein ungewöhnlich begabter Tanzkünstler, dessen kometenhafter Aufstieg ein Jahr später beginnen sollte, als die beiden mit dem „Ballett Russe“ in Paris gastierten und triumphale Erfolge errangen. Die europäische Presse übersehlug sich in Superlativen. Mit dem 19. Mai 1909 begann eine neue Ära der Ballettkunst. Der europäische Tanz war nicht mehr denkbar ohne das „Russische Ballett“. Noch heute spüren wir — wohin wir in Europa auch schauen mögen'—* den Einfluß der russischen Tänzer: Über Michael Fokin und Anna Pawlowa führte der Weg über Tamara Karsawina und Leonid Massin zu George Balanchin und Serge Lifar, die heute noch neben Ninette des Valois wirken. Eine stolze Reihe! In Petersburg hatte Diaghilew zwei frühere Orchesterwerke des bis dahin wenig bekannten Igor Strawinsky kennengelernt, das „Scherzo Fantastique“ und das „Feuerwerk“. Diaghilew spürte: Hier wächst einer der ganz Großen heran! Er bestellte bei Strawinsky die Orchesterfassung von zwei Chopin- schen Klavierstücken, und es dauerte nicht lange, so erhielt der junge Komponist von Diaghilew den Auftrag zur Schaffung eines eigenen Balletts. Es war der „Feuervogel“. Im Winter 1909 spielte Strawinsky in seiner Wohnung zum erstenmal aus den Klaviorskizzen. Der anwesende französische Kritiker Brussel schrieb über diese denkwürdige Stunde: „Der Komponist, jung, schlank und ver schlossen, mit unbestimmt sinnendem Blick, saß am Klavier. Aber im Augen blick, da er zu spielen anfing, leuchtete die überaus bescheidene und matt erhellte Wohnung von einem blendenden Glanz. Am Ende der ersten Szene war ich überwältigt •— am Ende der letzten von Bewunderung hingerissen. Das Manuskript auf dem Musikpult, über und über mit feinem Bleistift beschrieben, enthüllt ein Meisterwerk!“ Von Strawinsky selbst erfahren wir interessante Hinweise über die Stellung des Balletts und des Ballettkomponisten im ersten Jahrzehnt nach der Jahr hundertwende: „Ich muß hier kurz den Rang schildern, den die Kunst des Balletts und der Ballettmusik in den geistigen Zirkeln und bei den sogenannten .ernsten 1 Musikern einnahm, bevor die Gruppe Diaghilew in Erscheinung trat. Obgleich das russische Ballett damals, wie stets, durch seine technische Vollendung glänzte und obgleich bei den Vorführungen der Zuschauerraum immer gefüllt war, konnte man unter den Anwesenden niemals Mitglieder der erwähnten Schichten finden. Sie hielten diese Form der Kunst für inferior, besonders im Vergleich zur Oper, die damals auf Abwege geraten und zum Musikdrama geworden war, die aber in den