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Ein Gelehrter sagte voriges Jahr in einem Vortrag über den Stand der Bach forschung, daß das Bachbild sich alle 50 Jahre um eine höhere Dimension weite. Diese kühne und große Behauptung ist für den, der sich mit dem Problem ,,Bach" zu mühen unternimmt, eine Bestätigung dafür, daß dieser Größte, der Musik näher als alle anderen Menschen an dem göttlichen Urquell saß, aus dem alle Musik strömt. Im Vorwort eines älteren Klavierauszuges der Messe las ich, daß die Musik zum Confiteor im Credo „schlicht und einfach" sei. Prof. Mauersberger sagte etwa 35 Jahre später einmal: „Wer versuchen wollte, die kontrapunktischen Wunder dieser Doppelfuge zu zählen (1. Thema: Confiteor, 2. Thema: „In remissionem peccatorum", denen sich noch ein drittes Thema, das eingangs erwähnte grego rianische, überlagert, das vom Baß intoniert, vom Alt in der Quintlage kanonisch um eine Taktlänge verschoben anhebt, wonach der Tenor dasselbe Thema in der Vergrößerung (in doppelten Notenwerten) mitten in das Geflecht der Doppelfuge hinein „bekennt"), wer diese kompositorischen Wunder alle zählen wollte, könnte ebensogut die Sterne am Himmel zählen." Die Randbemerkungen, die dem Meßtext beigefügt sind, sollen das Verständnis der Musik erleichtern. Aber auch ohne sie kann sich kein Mensch der himmel stürmenden Wucht dieser Musik entziehen. „Erklärungen" werden da zum Stammeln! Wer vermöchte die Majestät der Alpen zu „erklären", oder das Wunder eines verflammenden Sonnenunterganges seinem Gemüt näherzubringen mit optischen Brechungsgesetzen! Zum Schluß ein Wort Luthers über die Schönheit polyphoner Musik: „Wo die natürliche Musica durch die Kunst geschärft und poliert wird, da siehet und schauet man erst zum Teil (denn gänzlich kann’s nicht begriffen noch ver standen werden) mit großer Verwunderung die große und vollkommene Weisheit Gottes in seinem wunderlichen Werk der Musica, in welchem vor allem das selt sam und wohl zu verwundern ist, daß eine schlichte Weise oder Tenor (wie es die Musici heißen) her singet, neben welcher drei, vier oder fünf andere Stimmen auch gesungen werden, die um solche schlichte Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen rings umher um solchen Tenor spielen und springen und mit mancherlei Art und Klang dieselbe Weise wunderbarlich zieren und schmücken, und gleich wie einen himmlischen Tanzreigen führen, also daß diejenigen, so solches ein wenig verstehen und dadurch bewegt werden, sich des heftig verwundern müssen, und meinen, daß nichts Seltsameres in der Welt sei, denn ein solcher Gesang mit viel Stimmen geschmücket." So herrlich ist das Wunder der kontrapunktischen Polyphonie niemals zuvor oder nachher wieder beschrieben worden. (A. Schweitzer.) A. B e s 1 e r.