E I N PüHKUNG Daß der Thomaskantor Bach den katholischen Meßtext komponierte, ist durchaus kein so großesProblem.mit dem noch der Altmeister der Bachforschung Spilla ringen zu müssen glaubte. Der Teil der Messe, der sich das ganze Jahr hindurch gleich bleibt, ist schon in christlicher Frühzeit in musikalisch feste Formen gebracht worden. Der alte gregorianische Choral verfügt über verschiedene Singweisen des Meßtextes. Bach hat in seinem Werk zwei Themen aus der IV ten Choral messe an den Angelpunkten des Glaubensbekenntnisses: ,,Credo in unum Deum Confiteor unam baptisma" verwendet. Damit wäre Spittas Problem an sich schon gelöst; mit der Verwendung dieser Themen dokumentiert Bach, daß seine Messe über konfessionelle Schranken hinweg ein Bekenntnis zur christlichen Welt anschauung bedeutet. Was ihm, lokal gesehen, um so leichter fiel, als der Meß text zu seiner Zeit in der evangelischen Liturgie Leipzigs manchmal noch lateinisch gesungen wurde. Verdeutscht bildet er bis zum heutigen Tage den Kern der evan gelischen Liturgie. Während andere Meßkompositionen Gebrauchsmusik sind, also dazu geschaffen wurden und werden, um beim Gottesdienst Verwendung zu finden, sprengt Bach in seiner Hohen Messe durch die Größe des Werkes alle Grenzen einer praktisch kirchlichen Verwendung. In einem Konzertsaal wäre die h-moll-Messe trotzdem fehl am Platze. Sie verlangt zur idealen Wiedergabe den Kirchenraum mit seinem Nachhall; sie benötigt einen Raum, der in Stein zu Gottes Ehre das aussagt, was Bach in Tönen zu uns redet. In unserer Marienkirche besitzen wir den idealen Klangraum für die Hohe Messe weit und breit. Wo könnte man das Wesen des musikalischen Kontrapunktes besser sehen als in unserer Kirche? Man schaue zum Gewölbe empor! Steinerne Rippen schießen wie Äste heraus aus den Pfeilern. Hüben wie drüben, gegensätzlich zueinander strebend, sich verschlingend zu wundersamem Flechtwerk. Ihre Überschneidungen bilden Linien höherer Ordnung, Linien, die den Blick nach vorn geleiten zum Altar — als Brennpunkt. Der Kontra punkt der Gewölberippen, der hier und dort in beinahe artistischem Können zeigt, wie mühelos er den spröden Werkstoff Stein zu formen vermag, steigert sich im Altarraum zu höchster Meisterschaft. Nicht mehr geradlinig verlaufen die Rippen, schwingende Wellenlinien überschneiden sich, zwei aufeinander senkrecht stehende Bewegungsrichtungen verschmelzen zu wundersamen Verschlingungen. In die Musik des Sanktus der Hohen Messe übertragen: Die Triolen der Sextakkorde, die wie Wolken von Engeln den Thron des Höchsten umschweben, drücken dem 4/4-Takt in dem die „irdischen" Bässe in feierlichstem Schrittmotiv daherschreiten einen dreiteiligen Takt höherer Ordnung auf, in der symbolischen Sprache Bachs ein Sinnbild der göttlichen Dreifaltigkeit.