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EINFÜHRUNG In dem Frühwerk, der „Ouvertüre zu Romeo und Julia, Fantasie für Orchester", deckt, äußerliche Schilderung vermeidend, Tschaikowski den dramatischen Konflikt auf: die Liebe Romeos zu Julia, gekennzeichnet durch eine Melodie von leidenschaftlicher Bewegtheit, und die Blutfeindschaft der beiden Geschlechter, symbolisiert durch aggressive und grelle Klänge. In der Einleitung erinnert die Choralweise an die heimliche Trauung der beiden Liebenden, in einem Epilog wird die endliche Vereinigung der beiden in Tod und Verklärung geschildert. Die I. eonoren-Ouvertüre Nr. 3, op. 72, hat Beethoven im Jahre 1806 verfaßt, sie war für die zweite Bearbeitung der Oper „Fidelio" (die bekanntlich bei ihrer Uraufführung durchfiel!) gedacht. Sie unterscheidet sich wenig von der so oft gespielten Nr. 2, sie benutzt dasselbe thematische Material, sie spricht denselben Ideengehalt aus wie ihre große Schwester Nr. 2 und ist ebenso wie diese ein Musikdrama im kleinen. Sie steht etwas im Schatten ihrer berühmteren Schwester —- aber es gibt keinen Grund, sie geringer zu achten als die andere Ouvertüre. Romain Rolland weist in einer Analyse nach, worin die Unterschiede zwischen den beiden Leonoren- Ouvertüren Nr. 2 und Nr. 3 bestehen. Es sind nur Unterschiede formaler Art, die er nennt. Lassen wir ihn selbst sprechen: „In der Ouvertüre Nr. 3 ist der Grundriß reinlicher gezogen, das Gleichgewicht der Massen streng gewahrt, die Reprise wieder aufgenommen und das Ganze von der Vorherrschaft des poetischen Gedankens befreit, der in der zweiten die Zügel der Musik geführt hatte. Damit war die klassische Sonatenform wiederhergestellt, aber in einer Straffheit und königlichen Fülle, wie nur Beethoven sie wiederherstellen konnte. Wer dächte nicht an das große Crescendo zum Schluß, das wie ein Bergstrom, vom Gewitterregen geschwellt, zu Tal stürzt und das ganze Gefilde überschwemmt! Und nun mag unter den beiden Meisterwerken auswählen wer will!" Brahms’ 1. Sinfonie, op. 68, wurde 1877 veröffentlicht. Die Einleitung zum ersten Satz ist voll größter Spannungen, der Orgelpunkt der Pauke zu Beginn stützt eine Musik von dramatischer Wucht und Erhabenheit. Der Aufbau dieses Satzes ist klassisch, beide Themen sind klar formuliert und deshalb klar zu erkennen. Brahms hat nun eine eigene Art der Durchführung, die sein Wesen, seinen grüblerischen Ernst und seine spröde Verhaltenheit deutlich erkennen läßt. Der englische Dramatiker Priestley sagt in einem Roman über dieses Werk einmal, daß er den Eindruck habe, daß Brahms mürrisch und grollend in der Ecke stehe und der übrigen Welt den Rücken kehre. Er hat nicht ganz Unrecht, weil er mit diesem Bild die Neigung zum Pessimismus, der Brahms nie mals ganz Herr werden konnte, andeutet. Auch Clara Schumann sagt ihm selbst in einem Briefe, sie fürchte sich vor der Düsternis und Kantigkeit seiner Seele, die sich gerade in diesem Satz offenbare, der mit dem Orgelpunkt des Beginns wieder abschließt. Der liebliche zweite Satz, der ebenfalls zwei musikalische Gedanken entwickelt, wird in der Mitte von dramatischen Erregungen gestört, die keinen inneren Frieden aufkommen lassen. Der dritte Satz ist, ganz entgegen der. Gepflogenheit Beethovens, kein Scherzo oder Menuett, sondern ein graziöses Allegretto. Die schlichte Melodie des Beginns, die in ihrer Umkehrung fortgeführt wird, kann aber nicht den Ernst und die Resignation verhindern, die sich dann in diesem Satz durchsetzt. Gleich dem Anfangssatz beginnt auch der Schlußsatz mit einer Einleitung, die mit Spannung und Größe geladen ist. Dann entfaltet sich wiederum echt sinfonisches Geschehen — Brahms wählt die Sonatenform auch für den Schluß satz. Das erste Thema mit seinem Anklang an den Hymnus der „Neunten" steht dem weicheren, lyrischen zweiten Thema gegenüber, so daß sich auch hier dramatische Ballungen ergeben, die jedoch in eine strahlende C-Dur-Coda einmünden, die dem Werk einen sieghaften Abschluß verleiht. Johannes Paul Thilman