EINFÜHRUNG Zu den Haydn-Variationen, die Johannes Brahms 1873 als sein Opus 56 schrieb, verwendete er als Thema ein Stück aus einem Divertimento für Blasinstrumente von Joseph Haydn, daa mit den Worten „Choräle St. Antoni" näher bezeichnet wird. Der Brahms-Biograph Kalbeck behauptet, Brahms habe mi,t diesem Werk die Versuchungen des Heiligen Antonius darstellen wollen, wie etwa heute Hindemith im Schlußsatz seiner Sinfonie Mathis der Maler. Die Variationen von Brahms sind als Charaktervariationen anzusprechen. Brahms hat also nicht variiert, indem er nur Veränderungen an der Melodie, an den Harmonien, am Rhythmus' und an der Lautstärke vornahm, sondern er hat mit Hilfe des immer veränderten Themas andere inhaltliche Aussagen machen wollen. Es sind dadurch in sich geschlossene Musikstücke entstanden, die von gegensätzlichem Charakter sind und das Thema nach seiner ganzen inhaltlichen Tiefe auszuloten versuchen. Den Höhepunkt schafft Brahms im Finale (als ein Beweis dafür anzusehen, daß Brahms meisterhaft disponieren konnte und fähig zur letzten Steigerung war), das selbst wiederum eine Variationsfolge über einen fünftaktigen ostinaten (immer wiedererklingenden) Baß darstellt, wobei da9 Haydn-Thema allmählich immer klarer, machtvoller und schöner hervortritt. Dieses Werk ist ein Vorläufer seiner Sinfonien; es ist eigentlich durchaus sinfonisch empfunden und reiht sich also würdig in die schöne Kette seiner vier Sinfonien ein. Im Jahre 1879 hat Antonin Dvorak sein großes Violinkonzert in a-Moll, op. 53, kom poniert. Der bedeutendste Geiger der damaligen Zeit, Josef Joachim, hatte sich bereit erklärt, die Violinstimme zu überprüfen. Bis 1882 haben die beiden an dem Werke gefeilt. Dvorak schreibt in einem Briefe: „Die Umarbeitung lag volle zwei Jahre bei Joachim! Er selbst war so liebens würdig, die Prinzipalstimme einzurichten; nur im Finale muß ich noch etwas ändern und an manchen Stellen die Instrumentation milder machen." Die Überarbeitung hat dem Werke nicht geschadet, es hat seine Frische und Ursprünglichkeit, die fast alle Werke Dvoräks auszeichnen, bewahrt. Das Violinkonzert ist dreisätzig; der erste und zweite Satz folgen ohne Pause aufeinander. Die Anlago ist sinfonisch Der erste Satz zeigt die beiden, dem Sonatenschema entsprechenden gegen sätzlichen Themen, das selbstbewußte, energische erste Thema und das süße, lyrische zweite. Der langsame zweite Satz steht in einer zarten, poetisch-verhaltenen Stimmung, er fließt über an melodischen Gedanken, er quillt über von Gefühl, das sich in einer Fülle schönster Melodien aussingt, die dem Volke abgelauscht sind. Der Schlußsatz ist im großen gesehen ein Rondo, wobei das Ritornell oder der Refrain im Rhythmus des tschechischen Volkstanzes Furiant gehalten ist, das heißt, daß Synkopen auftreten, die für den Furiant charakteristisch sind. Als Mittelteil wählte Dvordk die rhythmische Form der Dumka, eines anderen rassigen Volkstanzes der Tschechen. Das bedeutet Taktwechsel aus dem Drei-Schlag-Takt in den Zwei-Schlag-Takt. Dieser Gegensatz macht den Schlußsatz so interessant, so würzig, so zündend. Dvoräk ist ein Beispiel für die Kraft eines im Volke wurzelnden und aus dem Volkstum schöpfenden Komponisten. Tschaikowskis 6. Sinfonie, seine letzte, nennt er selbst die „Pathetische". Er ist echter Romantiker in diesem Werk, in welchem er mit großem Pathos, also mit einem gewissen Überschwang, seine ihn schmerzlich bewegenden Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Sinfonie, ist Darstellung seines Innenlebens, sie ist reiner Individualismus, sie ist ichbetont. Sie ist ein Bekenntnis seiner glühenden Seele, das aber vom damaligen Adels- und Bürgerpublikum in Petersburg zur Ur aufführung ziemlich gleichgültig und uninteressiert aufgenommen wurde (1893). Es war das Publikum, an das sich Tschaikowski im zaristischen Rußland allein wenden konnte, denn der Arbeiter und der Bauer waren in der damaligen gesellschaftlichen Situation von diesen künstlerischen Ereignissen ausgeschlossen. Das Neuartige an diesem Werke ist die Anordnung der Sätze, indem nämlich, Tschaikowski es wagt, das Adagio, den langsamen Satz, von seinem üblichen Standort als zweiten oder dritten Satz wegzunehmen und ans Ende zu setzen. Anscheinend ist ihm diese Kühnheit von dem konservativen Publikum seiner Zeit verübelt worden. Die dadurch entstandene Problematik war jenem genußsüchtigen Publikum des Jahrhundertendes schon zuviel. Tschaikowski hält sich in Hinsicht auf die Form der einzelnen Sätze ziemlich streng an das klassische Schema; allerdings ist der Inhalt ausgesprochen romantisch. Das Gefühl überwiegt, eine leidgesätligte Seele schreit ihre Qual in die Welt hinaus. Die Musik ist im letzten Sinne pessimistisch, woran auch die Ausbrüche von Trotz und Drohung nichts ändern. Erschütternd ist der Schluß, ein Lamento, ein Klagegesang eines Vereinsamten. Das Werk ist eigentlich eine Anklage gegen die damalige gesellschaftliche Situation. .Man vergißt leider sehr leicht diesen Ausgangspunkt, man sieht in ihm, allerdings mit Recht, ein Gipfelwerk der russischen Romantik, losgelöst vom gesellschaftlichen Hintergrund. Johannes Paul Thilman