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Direktübertragung aus dem Kongreßsaal des Deutschen Hygiene-Museums Sonntag, den 23. Oktober 1960, 11 Uhr Die Plätze müssen bis 10.45 Uhr eingenommen sein DAS MEISTERWERK DIRIGENT Prof. Heinz Bongartz MITWIR KE N DE Prof. Egon Morbitzer, Violine, Berlin Prof. Bernhard Günther, Violoncello, Berlin Orchester: Dresdner Philharmonie JOHANNES BRAHMS 1833—1897 Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester a-Moll, op 102 Allegro Andante Vivace non troppo PAUSE Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur, op.’56a Das Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester op. 102 von Johan nes Brahms entstand im Jahre 1887. Es verlangt eine starke geistige Bereitschaft. Nicht nur, daß es Anforderungen an die geistig und technisch ebenbürtigen Solisten stellt, sondern auch wegen seiner polyphonen Struktur an die Hörer. Brahms greift die Musizierpraxis des Concerto grosso wieder auf, wobei er die beiden Soloinstrumente als ein gleichwertiges Concertino dem Tutti gegenüberstellt. Der eiste Satz beginnt mit einer viertaktigen Orche stereinleitung, in der das Hauptmotiv des Satzes festgelegt wind, worauf ein breites Rezitativ der Soloinstrumente folgt, ehe der eigentliche sinfo nische Beginn anhebt. Und damit fängt ein so gelöstes und gar nicht grüblerisches Musizieren an, das ganz vergessen läßt, daß Brahms eigent lich ein verschlossener und pessimistischer Mensch war. Vor allem ist das zweite Thema von anmutiger Stimmung. Der zweite Satz ist wohl am besten mit einer Romanze zu vergleichen, schlicht in ihrer Haltung, warm in ihrer Stimmung. Der Schlußsatz spru delt über von Laune und Übermut, von Keckheit, Fröhlichkeit und Kraft. Wie so oft, spricht Brahms dies in ungarischen Rhythmen und Anklängen aus. Das Werk auf dem Höhepunkt des Schaffens von Brahms zeigt ihn im Vollbesitz einer Meisterschaft, die es vermag, alle Seiten seines Wesens zu offenbaren, auch jene, die er so gern versteckte. * Zu den Haydn-Variationen, die Johannes Brahms 1873 als sein Opus 56 schrieb, verwendete er als Thema ein Stück aus einem Divertimento für Blasinstrumente von Joseph Haydn, das mit den Worten „Choräle St. Antoni“ näher bezeichnet wird. Der Brahmsbiograph Kalbeck behauptet, Brahms habe mit diesem Werk die Versuchungen des heiligen Antonius darstellen wollen, wie etwa heute Hindemith im Schlußsatz seiner Sinfonie Mathis der Maler. Die Variatio nen von Brahms sind als Charaktervariationen anzusprechen. Brahms hat also nicht variiert, indem er nur Veränderungen an der Melodie, an den Harmonien, am Rhythmus und an der Lautstärke vornahm, sondern er hat mit Hilfe des immer veränderten Themas andere inhaltliche Aussagen machen wollen. Es sind dadurch in sich geschlossene Musikstücke entstan den, die von gegensätzlichem Charakter sind und das Thema nach seiner ganzen inhaltlichen Tiefe auszuloten versuchen. Den Höhepunkt schafft Brahms im Finale (als ein Beweis dafür anzusehen, daß Brahms meister haft disponieren konnte und fähig zur letzten Steigerung war), das selbst wiederum eine Variationsfolge über einen fünftaktigen ostinaten (immer wiedererklingenden) Baß darstellt, wobei das Haydn-Thema allmählich im mer klarer, machtvoller und schöner hervortritt. Dieses Werk ist ein Vor läufer seiner Sinfonien; es ist eigentlich durchaus sinfonisch empfunden und reiht sich also würdig in die schöne Kette seiner vier Sinfonien ein.