Volltext Seite (XML)
Sinfonie Nr. 4, f-MoII, op. 36 Immer schon gehörte Tschaikowskijs Vierte Sinfonie zu den beliebtesten Werken der Konzertliteratur. Es ist zugleich jenes Werk des russischen Klassikers, das am wenigsten mißverstanden wurde; zu seinem Verständnis trug eine allgemein bekanntgewordene Interpretation des Meisters selbst bei, die er in einem Brief an die „Geliebte Freundin“ (so der Titel des bekannten Buches, das den Briefwechsel Tschaikowskijs mit Nadeshda von Meck ent hält) niedergelegt hatte. Heute freilich, da wir die Forschungen der sowjeti schen Musikgelehrten kennen, die sich gerade Tschaikowskijs mit besonderer Liebe angenommen haben, sehen wir die Sinfonie und ihre Auslegung durch den Komponisten mit neuen Augen. Wir wissen heute, daß die Sinfonie, gleichzeitig mit der Oper „Eugen Onegin“ übrigens, in der wir manchen ver wandten Gedanken finden, entstand in einer „Epoche des Umbruchs in Ruß land, als das Alte vor den Augen aller unwiederbringlich zusammenstürzte und das Neue sich erst zu bilden begann“ (W. I. Lenin, Band XV, Seite 102). In diesen Jahren spitzten sich die sozialen Gegensätze in Rußland aufs schärfste zu. Die Welle der Revolution wuchs an. In Petersburg wurde demon striert. Die Jugend rief die Bauern zum Kampf gegen die Zarenregierung auf. In einer Reihe von politischen Prozessen wurden die Anhänger des Volkes erbarmungslos unterdrückt. Tschaikowskij stand bei diesen Ereignissen nicht unbeteiligt beiseite. Dieser feine Lyriker, dieser zartfühlende Musiker war ein politischer Mensch, der feinfühlig auf die Schwankungen des sozialen Bodens reagiorte, der das sich nähernde Ungewitter spürte. „Wir erleben eine furcht bare Zeit“ schrieb er in einem Brief des Jahres 1878, „versucht man, sich in die Geschehnisse hineinzudenken, so wird einem bange zumute ...“ Und ein andermal beklagt er die „freche, hartherzige Willkür des Petersburger Prä fekten“ (d. h. des Bürgermeisters): „Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man erfährt, wie mitleidlos, hart, unmenschlich die Jugend behandelt wird.“ Aus dieser Stimmung heraus ist die Vierte Sinfonie entstanden. Das in der Einleitung ertönende Fanfarenmotiv ist nach seinen eigenen Worten das „Samenkorn der ganzen Sinfonie“. Es versinnbildlicht „das Fatum, das Schicksal, jene verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück sich nicht verwirklichen läßt ... Diese Macht ist unbesiegbar und unentrinnbar“. Im Hauptteil des ersten Satzes kündet dann das erste Thema von Ergebung und fruchtloser Sehnsucht, das zweite, nach einem großen Ritardando und Diminuendo in der Soloklarinette einsetzend, von Träumen, in die man selbst vergessen sinkt, um dann um so rauher von der Wirklichkeit, vom Ruf des Schicksals geweckt zu werden: „So ist denn unser ganzes Leben ein unab lässiger Wechsel harter Wirklichkeit und flüchtiger Traumgebilde ...“ Der zweite Satz mit seinem zuerst von den Oboen angestimmten, dann von anderen Instrumenten aufgenommenen b-Moll-Gesang drückt nach den Worten Tschaikowskijs „eine andere Stufe der Schwermut“ aus. „Es ist jenes weh-