Volltext Seite (XML)
„Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet . . . überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschenge schlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im ganzen damit beschaffen sein mag, welches zu untersuchen und näher zu bestimmen nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehren volle Rolle vorbehalten ist." Diese Worte schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbejahr Ludwig van Beethovens. Es erübrigt sich zweifellos nachzuweisen, wie sinnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehren volle Rolle" erfüllt hat. Aber „Weltliteratur" ist nicht nur literarisch zu begreifen, sondern auch im musikalisch-musikhistorischen Sinne. Beet hoven, der große Wiener Klassiker, schrieb kurz vor der Vollendung der neunten Sin fonie, im April 1823: so hoffe ich end ¬ lich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust". In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu charak terisieren, was man den deutschen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hinweis auf Goethes „Faust“ und Beet hovens „Neunte". Zwei Ebenbürtige schufen im Bestreben der „Besten" weltumspannende Bot schaften, die einzigartigsten Dokumente wohl aus der deutschen klassischen Kulturperiode. Hat Goethe in seinem „Faust“, der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner gan zen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte“ Ausdruck seiner „Weisheit und Philosophie“, seine weltan schaulich-künstlerische Offenbarung. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die endgültige Gestaltung seines größten Werkes gerungen. Bereits der 23jährige Komponist trug sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie gedacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 findet sich ein Entwurf für die Textworte „ . . . muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven das Goethe-Gedicht „Kleine Blumen, kleine Blätter“ auf eine Melodie, die im wesent lichen schon das „Freudenthema" der neunten Sinfonie vorwegnahm. 1812 bestand die Ab sicht, eine Festouvertüre mit Chorgesang über Schillers Freuden-Ode zu schaffen. Die ersten Skizzen zur neunten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informiert eine Tagebucheintragung über den Plan einer Sinfonie mit chorischem Finale. Erst 1822 be gann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Ely sium" endgültige Gestalt anzunehmen. Lang sam reifte nun auch die Chor-Lösung des Fina les, das — im Februar 1824 vollendet — schließ lich den monumentalen Bau der Sinfonie krönte, einer Sinfonie „auf die Art" wie schon Beetho vens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch weit grö ßer gehalten als selbe". Beethovens Ringen um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonie lose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte" auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der berjdM Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beetf^^ ven ursprünglich rein instrumental vorgestellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine Fuge über das variierte Thema vom zweiten Satz war gedacht. Man sieht also, daß die Idee der neunten Sinfonie für ihren Schöpfer nicht von vornherein feststand, sondern daß sie erst während der geistigen und formalen Auseinan dersetzungen reifte und Gestalt annahm. Da Worte die Aussage der Musik konkretisieren, ist diese Idee der „Neunten“ untrennbar mit den Schillerschen Versen verbunden, deren Auswahl wiederum bezeichnendes Licht auf die Persönlichkeit des Komponisten, auf dessen hu manistische, ethische und religiöse Anschauun gen wirft. Die sinfonische Gestaltung des Chorfinales, die Verbindung der vorausgehenden drei instru mentalen Sätze mit dem abschließenden Vokal teil war ein mühevoller Prozeß. Das Rezitativ sollte ursprünglich mit den Textworten „Heute ist ein feierlicher Tag . . . dieser sei gefeiert mit Gesang" beginnen. Dann dachte Beethoven an die Worte: „Laßt uns das Lied des unsterb lichen Schiller singen!“ Endlich wurde die t^^L liehe Lösung des Baß-Solos gefunden :VB Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns an genehmere anstimmen und freudenvollere“. Als Beethoven die „Neunte“ vollendet hatte, herrschte in Österreich, naturgemäß besonders stark in Wien, noch immer die bedrückende po litische Atmosphäre, der „verzweiflungsvolle Zustand“ nach dem Wiener Kongreß. Seit der achten Sinfonie waren für Beethoven elf Jahre bitterer Enttäuschung persönlicher Art ver gangen, Enttäuschung aber auch über die reak tionäre Großbourgeoisie, die die revolutionä ren Ideale verraten hatte. Aber trotz der Unter drückung aller demokratischen Regungen durch Metternichs System hatte der völlig ertaubte Meister während der Arbeit an der „Neunten" neuen künstlerischen Elan gewonnen. Dennoch hielt er die bedrückende politische Situation in Wien nicht für eine Uraufführung seiner „Neunten" geeignet und dachte zunächst an eine Berliner Uraufführungsstätte. Vaterlän disch gesinnte Wiener Kunstfreunde konnten Beethoven jedoch von dieser Absicht abbringen. So wurde an dem denkwürdigen 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater zu Wien die „Große Sinfonie mit im Finale eintretenden Solo- und Chorstim men auf Schillers Lied ,An die Freude'“ urauf geführt. Eine begeisterte Zuhörermenge feierte den Meister stürmisch. Die bis dahin noch nie erlebte Klanglichkeit, der organische, gedan- flmtiefe Bau, der humanistische Inhalt der in ^ffer Größe und ihrem Plan ungewöhnlich an spruchsvollen Sinfonie war spontan verstanden worden. Seit diesem Tage wurde die neunte Sinfonie Besitz der deutschen Nation, ja, der gesamten Menschheit. Wenn wir heute in den Interpretationen des Werkes seine allgemein menschliche Botschaft betonen, dann entspricht das zutiefst dem An liegen des Demokraten Beethoven, der in Schillers Versen den Ausdruck des Humanen, seiner weltanschaulichen Gedanken sah. So stellt sich uns die Sinfonie dar als die Summe der Beethovenschen Lebenserfahrungen, seiner Philosophie und seiner künstlerischen Ideen. Das Motto, das man auch der fünften Sinfonie Beethovens voranzustellen gewohnt ist: „Per aspera ad astra" (durch Nacht zum Licht), hat für die „Neunte" mehr als symbolische Bedeu tung. Der Sieg der aus der Finsternis zum Licht strebenden Kräfte, das Erreichen des Zieles nach erschütterndem Kampf, wird im Chorfinale mit dithyrambischem Freudentaumel besungen: „mit dem Schillerschen Gleichnis von einer zu künftigen Gesellschaft, in der die Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen erfüllt wird, in der wirklich Freude herrschen kann" (Karl Schönewolf). Wie eine gewaltige Kuppel überspannt das mitreißende Chorfinale, das die revolutionär-demokratische Idee des Werkes durch Worte verdeutlicht, den mäch tigen sinfonischen Bau des Ganzen. Die ein zelnen Sätze der „Neunten" weisen — im Ver gleich zu den früheren Sinfonien —- ins Riesige gesteigerte Ausmaße auf. Beethovens groß artigstes Bekenntniswerk ruft in seiner starken ethischen Haltung die Menschen zur Besinnung auf ihre höchsten Ideale auf. Schildert der erste Satz den „verzweiflungsvol len Zustand" einer freudlosen Welt, die im energischen Kampf verändert werden muß, so ist im folgenden Scherzo, das entgegen der Tradition dem Adagio vorausgeht, ein derb fröhliches, hastendes Leben dargestellt, dessen bis zum Zerreißen gespannte Erregtheit jedoch noch keine befreiende Aufhellung bringen kann. Was im Adagio dann als eine „Vision von Glück und Frieden" klangliche Gestalt ge winnt, wird im Finale erreicht: „Heute ist ein feierlicher Tag . • . dieser sei gefeiert mit Ge sang“, wie es im ursprünglichen Text lauten sollte. Die brüderlich vereinte Menschheit be singt überschwenglich jubelnd die schwer er rungene Freude in einer Welt, die ihr gehört. Dr. habil. Dieter Härtwig