Volltext Seite (XML)
fonien" zu großem Ansehen in der europäi schen Musikwelt verhalfen. Zu verteidigen hatte Haydn viel: Bei aller Viel seitigkeit seines Schaffens (mehr als ein Dut zend Opern, zahlreiche Vokal- und Kammer musikwerke sowie über zwanzig Konzerte) war es vor allem das Gebiet der Sinfonik und der Streichquartette, auf dem er Gründer, Ent wickler und erster Vollender der musikalischen Klassik in einer Person darstellte. Das was in seinem Werk sinfonisch ist, hat er von nirgend wo übernommen, sondern selbständig entwik- kelt und gewissermaßen experimentell gewon nen. Fehlt seinen Experimenten der Ruch des Vagen und Spekulativen, wie wir das heute gewohnt sind, so deshalb, weil er weniger et was erfand und sich damit modernistisch gebär dete, als daß er sich jedes Illusionismus begab und beharrlich um einen bündigen und klaren musikalischen Eindruck rang. Die Konzipie rung der sinfonischen Großform, die Ausprä gung charakteristischer Einzelsätze und ihrer Binnenstruktur, die Bindung aller kompositori schen Elemente wie Einzelstimmenverlauf und Gesamtklang, Struktur und Fläche an eine al les bestimmende thematische Arbeit — zu all diesen Errungenschaften gelangte Haydn auf einem langen, einsamen Weg, der Beethoven die Bahn bereiten und sich auf über ein Jahr hundert Musikgeschichte prägend ausbreiten sollte. Es ist um so erstaunlicher, welches Ergebnis Haydns „mühesamer Fleiß“ erbrachte: Diese letzte Messe des Wiener Meisters strahlt Frische und mitreißenden Elan aus — bereit, eine reich verzierte Kirche des österreichischen Rokoko mit. prächtigen Klängen zu füllen, wie man es unter den vorgegebenen äußeren Bedingungen nicht vermuten würde. Wegen ihrer umfangreichen Verwendung von Bläser-(Harmonie-)stimmen auch „H a r m o n i e m e s s e“ genannt, gibt sie neben ihrer die Wirkung nicht verfehlenden optimistischen Grundhaltung überwältigenden Beweis von Haydns kompositorischer Meister schaft. Wie hier die Verflechtung von Sing stimme und Orchester, von Chorischem und Solistischem, von großer orchestraler Geste und ziselierten kammermusikalischen Passa gen in vielfältigen Schattierungen feinsinnig wie effektvoll vorangetrieben ist, wie hier der dif fizile Gesamtbau letztlich von einem sinfoni schen Gestaltungsprinzip mit weitgehender Führung des Orchesters bestimmt wird, konnte nur noch durch Beethovens geniale „Missa so- lemnis" eine Steigerung erfahren. Sicherlich fällt in der heute erklingenden Har moniemesse die Vielzahl schneller Sätze auf. Sie mag wohl Haydns Naturell entsprechen, erscheint aber im Gesamtverlauf des Werkes bündig und durch genügend verhaltene und verinnerlichte Stellen ausgewogen kontrastiert, (Was man ihm oft zum Vorwurf machte, sollte man ihm heute eher zugute halten: wie weni gen Komponisten gelang es, Tempo, Tempera ment, Feuer und Munterkeit auf so lange Strecken mit Erfolg durchzuhalten, wie dem zu Unrecht manchmal geschmähten „Papa Haydn"!) Ursprünglich wurden die Messen in den Hauptabschnitten Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus dei stückweise über das Hochamt verteilt aufgeführt, wobei die Häu fung schneller Sätze nicht ins Gewichte >1. Für die Satzkunst Haydns spricht es, daP er dennoch immer Steigerungs- bzw. Variierungs möglichkeiten bereithält. So hat z. B. der nach dem Prinzip schnell-langsam-schnell konzipier te „Gloria"-Teil einen sich gegen den gemes senen Einleitungsteil des „Kyrie“ abhebenden virtuosen, von der kompositorischen Struktur her aber recht simplen Beginn. Daher wirkt der Mittelteil mit einem milden, ebenfalls schlichten Arioso („Gratias") schon als ausrei chender Gegensatz. Nachdem der Chor im „Qui tollis” den langsamen Teil mit ernster, nachdenklicher Stimmung dramatisch be schließt, muß der den „Gloria"-Teil beendende schnelle Abschnitt „Quoniam . . ." stärker aus gearbeitet sein. Hier übernimmt Haydn das virtuose Tempo des „Gloria"-Beginns, berei chert es aber um die rhythmische Strenge des „Qui tollis“, die sich in der kontrapunktischen Vielschichtigkeit der krönenden Fuge äußert. Im folgenden Credo gewinnt der dem voran gegangenen Quoniam wesensverwandte schnelle Teil eine Steigerung durch das mit selbständigem Führungsanspruch voranstür mende Orchester. Hatte Haydn zwischen 1782 und 1796 aufgrund des Verbots Kaiser Joseph II., die katholischen Hochämter rrA - strumentalbegleiteten Messen weiterhin abzu statten, sein aktives Wirken auf diesem Gebiet eingestellt (er schrieb insgesamt 14 Messen!), so konnte er als Sinfoniker, nicht zuletzt durch sein wiederholtes Auftreten in dem ihn hoch verehrenden bürgerlichen England, zu einem Grad höchster Vollkommenheit gelangen. Was Wunder, wenn nach dem Tode Franz Josephs II. der wiederentstandene Freiraum von dem nicht gerade zur Askese neigenden Komponi sten genutzt wurde, aber jetzt mit allen Fein heiten der in den „Londoner Sinfonien" ent wickelten orchestralen Struktur. Die tonangebenden Zeitgenossen nahmen es Haydn übel, daß er einen Unterschied zwi schen geistlicher und weltlicher Musik nicht anerkannte. Der Katholizismus in Österreich empfand sich bedroht durch die bürgerliche revolutionäre Bewegung in Frankreich und drängte auf dogmatische Unterwerfung und Rückbesinnung auf sich selbst. Haydn war in seiner Antwort erfinderisch: „Da mir Gott ein fröhlich’ Herz gegeben hat, so wird er mir schon verzeihen, wenn ich ihm fröhlich diene", und blieb auf der Seite der Handwerker und Bauern, zu denen es ihn zeitlebens hinzog. Heutzutage erweist es sich eher als Gewinn, der frohen Botschaft Haydns im Konzertsaal zu begegnen. Nichts in der Harmoniemesse b’ Ät aus dem Detail heraus. Alles in ihr ist g«. ^Bezu sinfonisch integriert in eine auf un konventionelle Weise wortgebundene Musik. Es gibt keine Solo-Arien, wohl aber solistische, indes kaum arios zu nennende Einwürfe, die aus dem Chorgesang herauswachsen und zu ihm zurückführen. Es gibt fast naiv textorien tierte Klangeffekte im Sinne einer verklärten Gottseligkeit, die Haydn wunderbar einfach und direkt auszudrücken verstand. Wie er den homophon-akkordischen Klangsatz dieser Mes se polyphon auflöst in kanonisch geführte Stimmauffächerungen, wie er diese wiederum bündelt und zu kräftiger en-bloc-Wirkung führt, wie Solo-Jubilationen aus dem Chor- Tutti abgespaltet und wieder ins Tutti zurück geführt werden, wie Haydn Pedalklänge der Bläser als grundierende Farbträger einsetzt und die Streicher gleichzeitig in selbständiger Figuration parallel entwickelt, sind einige von vielen Elementen, die beweisen, daß uns Haydn mit diesem seinem letzten vollendeten großen Werk einen frohen Schwanengesang auf dem Gipfel der Meisterschaft hinterlassen hat.