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Das im Auftrag der Dresdner Philharmonie 1975 geschaffene jüngste Orchesterwerk des Kom ponisten, das am 13./14. April 1976 unter seiner Leitung bei der Philharmonie seine erfolgreiche Uraufführung erlebte, wurde ge danklich angeregt durch die Lek türe des Gedichtzyklus »Aufent halt auf Erden« (1925-1945) des großen chilenischen Dichters Pablo Neruda, der am 23. Sep tember 1973 zwölf Tage nach dem faschistischen Putsch in sei nem Heimatland in Santiago starb, seit langem schwer krank und geschwächt, zuletzt in sei nem Haus durch schwerbewaff nete Soldateska von der Außen welt abgeriegelt. »Über alle Dinge stellte er den Menschen, den Mann und die Frau«, sagte Salvador Allende einmal. »Dar um ist in seiner Dichtung die Liebe und der soziale Kampf.« Bilden die ersten beiden Teile des Gedichtzyklus die sinnbild liche Bestandsaufnahme einer schiffbrüchigen Welt, kommt es es im dritten Teil zur Ausein andersetzung mit dem interna tionalen Faschismus, werden die Feinde des Volkes angeklagt, wird das Volk in Waffen be sungen. Siegfried Kurz wählte für seine Kompositionen, die man als sin fonische Dichtung bezeichnen kann, entsprechend der literari schen Anregung den Titel Auf enthalt auf Erden Reflexionen für Orche ster nach Pablo Ne ruda. In allgemeinen sinfoni schen Bildern werden hier Ge danken des Dichters reflektiert, ohne daß jedoch dem Stück ein detailliertes Programm zugrunde liegt. Der Inhalt der einsätzigen, dabei fünfteilig gegliederten Komposition ist etwa wie folgt ■zu charakterisieren: Dem Men schen fällt während seines Auf enthaltes auf Erden nichts in den Schoß. Er muß arbeiten, er muß kämpfen. Doch es lohnt sich zu leben, zu lieben, zu arbeiten, zu kämpfen, das Glück in Frieden zu erringen. Das Leben auf die ser Erde ist schön - auch wenn es Kämpfe, Auseinandersetzun gen, Erschütterungen, Konflikte mit sich bringt. In der Einleitung (Moderato) wird zunächst das statische Grundthema exponiert, das sich schrittweise und sehr weiträumig zu einem über mehrere Oktaven verteilten Zwölftonakkord - bei gleichzeitiger dynamischer Stei gerung - entwickelt, sich gleich sam »aufbaut«. Dann folgt ein bewegtes zweites Thema, das alle zwölf Töne innerhalb einer Oktave umfaßt, beginnend in Solovioline und Solobratsche, schließlich in der Soloflöte. Eine Steigerung, der beide Themen zugrunde liegen, führt zu einem Allegro-Teil, in dem es zu dia lektischer Auseinandersetzung zwischen den beiden Themen kommt, die gegeneinandergesetzt werden in Vergrößerung und Verkleinerung. Eine hymnische Entwicklung igeht in den besinnlichen Mittel teil (Andante) über, der mit der Umkehrung der Themen arbeitet und eine besondere strukturelle Dichte besitzt. Erneut schließt sich der sogenannte Durchfüh rungsteil (Allegro) an, der eine vitale Ausdrucksverdichtung, ja den Höhepunkt des Stückes bringt. Nach einer Generalpause setzt der Epilog (Andante) ein, in dem das Grundthema struk turell und dynamisch stetig »ab gebaut« wird, bis das Stück, nahe am Verstummen, ganz ver halten ausklingt. Dr. Dieter Härtwig