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DIE LOSLOSUNG SÜDAMERIKAS VOM MUTTERLAND Die Spanier kamen als Eroberer und Goldsucher nach Amerika. Im Gold- und Silberreichtum Mexikos und Perus lag der Wert der Kolonien für Spanien. An eine Besiedlung und weitergehende Nutzbarmachung dachte niemand. Der Spanier liebte es in der Stadt zu wohnen. Ihm fehlte der Hang zu landwirtschaftlicher Arbeit, aber auch das kaufmännische Talent der Portugiesen. Er war Großgrundbesitzer und ließ die Eingeborenen für sich arbeiten. Die Regierung hatte einzelne Unternehmer zur Eroberung aus ziehen lassen und fand das ganze Land in deren Besitz, als sie die Kolonien in ihre Verwaltung nahm. Die Zuwanderung aus Spanien wurde bald wegen des Menschenmangels im Mutterlande gesperrt. So saß nur eine ganz dünne spanische Oberschicht über den versklavten Indianern. Außer dem Edel metall bot Amerika zunächst gar nichts. Fast alle Produkte, mit denen es heute den Weltmarkt beliefert, wurden erst eingeführt und langsam ver breitet. Aber durch den Mangel an wirtschaftlicher Begabung bei den Spa niern konnte die Plantagenwirtschaft nur wenig Bedeutung gewinnen. Allein der Zucker wurde ein Produkt für Massenausfuhr. Der Handel der Westküste, also Perus und Chiles, vor allem der Abtransport der Bodenschätze, ging zu Lande über die Meerenge von Panama. Zwar hatte Magelhaes schon 1520 die nach ihm benannte Straße und damit das Südende Südamerikas gefunden; zwar hatten um 1600 die Holländer fest- gestellt, daß das südlich davon liegende Feuerland eine Insel war und nicht bis zum Pol reichte. Aber der Seeweg um Kap Horn wurde nicht gebräuch lich. So gering war der Handel. Nicht viel anders stand es um die portu giesische Kolonie Brasilien, nur war hier eine starke bäuerliche Einwande rung zu verzeichnen. Ferner fehlte das „Goldfieber"; nicht schnell als kriegerische Eroberer, sondern langsam als ruhige Siedler drangen die Portugiesen ins Innere vor. Ihnen mangelte die religiöse und nationale Be geisterung und der abenteuerliche Schwung der Spanier, ferner der Rasse stolz, der diese lange an jeder Vermischung mit Eingeborenen hinderte. Die Portugiesen kannten keine Absonderung, sie vermischten sieh mit In dianern, mit den eingeführten Negern, mit allen Einwanderern anderer europäischer Völker. So gab es in Brasilien bald nur noch Mischlinge. Die reinen Indianer im Innern aber wurden hier genau so ausgebeutet und unter drückt wie im spanischen Gebiet. Es ist das Verdienst der Kirche, vor allem der Orden, hier mildernd eingegriffen zu haben. Die Jesuiten gingen in Südbrasilien sogar so weit, Indianergemeinden auf sozialistischer Grund lage unter Führung von Ordensvätern zu organisieren; ein Versuch, der von der „aufgeklärten“ portugiesischen Regierung des späten 18. Jahr hunderts durch Vertreibung der Jesuiten vernichtet wurde. In die von jeder Berührung mit dem außerspanischen Europa sorgfältig abgeschlossenen spanischen Kolonien drangen um die Wende zum 19. Jahr hundert plötzlieh die freiheitlichen Ideen der amerikanischen und der fran zösischen Revolution. Die Wirkung dieser Gedanken in dem Lande, das bisher nur die spanische, stark von der Kirche bestimmte Gesellschafts ordnung kannte, war ungeheuer. Zugleich begann man den Gegensatz zum Mutterland zu fühlen, das schon lange an seiner politischen Zukunft verzweifelnd dem geistigen Zerfall entgegenging. Man selbst fühlte sich als Eroberer eines Erdteils, als Vollbringer einer weltgeschichtlichen Sendung, als junges aufstrebendes Volk. Das Band zu Spanien wurde plötzlich ge lockert: Napoleon setzte die Bourbonendynastie in Spanien ab und machte seinen Bruder Joseph zum König. Die Kolonien galten als persönlicher Besitz des Königs und fühlten sich daher jetzt jeder Bindung an Spanien ledig. Erst bildete man provisorische Regierungen bis zur Wiederkehr der Bourbonen. Dann hatte man Geschmack an der Selbständigkeit gefunden. Von einer Bedrückung der Kreolen, der in Amerika geborenen Spanier, durch ihr spanisches Mutterland konnte nie die Rede sein. Aber man träum te von Selbstbestimmung und ging an die Vertreibung der spanischen Truppen und Gouverneure. Den im Freiheitskrieg gegen Napoleon geübten Regimentern gelang die Wiedereroberung; aber sie machten die spanische Herrschaft jetzt wirklich verhaßt und gaben der Empörung erst die rich tige Nahrung. Unter Führung hervorragender Männer wie San Martin und Bolivar siegte die Bewegung gleichzeitig im Süden und Norden. Die Anerkennung durch die Vereinigten Staaten und England unter Minister Canning schützte die jungen Republiken vor dem Eingreifen der „Heiligen Allianz“ zugunsten Spaniens. Die freien Bürger waren aber, nachdem das persönliche Treuverhältnis zum König zerrissen war, an Unterordnung unter ihresgleichen schwer zu gewöhnen. So sind diese Staaten vor Re volutionen nie dauernd zur Ruhe gekommen. Auch Brasilien löste sich vom Mutterland, erlebte aber noch fast 70 Jahre einheimische Monarchie. Erst 1889 schüttelte hier der junge Parlamentarismus die monarchische Bindung ab.