ZUR EINFÜHRUNG Karl Amadeus Hartmann wurde 1905 in München als Sohn eines Malers geboren. An der Münchner Akademie der Tonkunst erwarb er die er sten Kenntnisse und Fähigkeiten. Von entscheidender Bedeutung für die Ent wicklung seines Schöpfertums war aber erst die Begegnung mit dem großen Dirigenten Hermann Scherchen. Hartmann wurde dessen Schüler und blieb ihm zeitlebens in enger Freundschaft verbunden. Es waren vor allem meisterhafte Satztechnik und sicheres Formgefühl, die dem Unterricht des Komponisten Scherchen besonderes Gepräge gaben und bei Hartmann reiche Früchte trugen. Als er gerade anfing, mit seinen Werken die Aufmerksamkeit der Fachwelt zu erregen, begann 1933 die Herrschaft des Faschismus in Deutschland. Hart manns Musik wurde als „entartete Kunst" verfemt. Der Komponist blieb in der Heimat. Später erklärte er: „In diesem Jahr erkannte ich, daß es notwendig sei, ein Bekenntnis abzulegen, nicht aus Verzweiflung und Angst vor jener Macht, sondern als Gegenaktion. Ich sagte mir, daß die Freiheit siegt, auch dann, wenn wir vernichtet werden . . Gelegentlich hatte Hartmanns Musik im Aus land Erfolg. Später wurde es immer stiller um ihn. Aber er arbeitete weiter. Deutlich spiegeln Werke jener Zeit Hartmanns ungebrochene humanistisch-an tifaschistische Haltung wider. 1941/42 arbeitete er in der Nähe Wiens mit An ton Webern zusammen. Hier lernte er die Musik der Schönberg-Schule kennen. Die Schönbergsche Zwölftontechnik wurde von Hartmann freilich frei übernom men. Wichtige Anregungen verdankte er der expressiven Tonsprache Alban Bergs. Mit Webern studierte Hartmann auch Werke Bartoks, Kodälys, Strawins kys. Neben dieser Aufgeschlossenheit für alles Neue blieb die besondere Ver ehrung für die Kunst Johann Sebastian Bachs. Sogleich nach Beendigung des Krieges begann Hartmann beim Bayrischen Rundfunk eine Konzertreihe unter dem Titel „Musica viva“ zu organisieren. Nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus reifte auch die eigene Arbeit zu immer höherer Vollendung. Der höchst selbstkritische Künstler hatte viele sei ner früheren Werke zurückgezogen. Nun begann mit der 2. Sinfonie ein neuer Schaffensfrühling. Alle Arbeiten, die Hartmann bis zu seinem Tode (er starb 1963 in München) schuf, zeigen das Bestreben, den Hörer zu erreichen, bei al ler kunstvollen Gestaltung tiefe emotionale und geistige Wirkungen zu erzielen. Der bürgerliche Humanist war sich der tiefen Krise seiner Umwelt stets be wußt. Er erkannte die zunehmende Bedrohung der Menschlichkeit im Imperialis mus und gab ihr unverhüllten Ausdruck. So sind seine das eigene Schaffen scharfsichtig charakterisierenden Worte zu verstehen: „Wem meine Grundstim mung depressiv erscheint, den frage ich, wie ein Mensch meiner Generation seine Epoche anders reflektieren kann als mit einer gewissen schwermütigen Bedenklichkeit. Ein Künstler darf nicht in den Alltag hineinleben, ohne gespro chen zu haben. Wenn meine Musik in letzter Zeit Bekenntnismusik genannt wurde, so sehe ich darin nur eine Bestätigung meiner Absicht." Nicht zufälllig ist Hartmann mit seinen acht Sinfonien einer der letzten großen Sinfoniker der bürgerlichen Musik. Noch einmal weiß er die sinfonische Form mit bedeutendem, tief humanistischem Gehalt zu füllen. In einer Zeit, da viele seiner bürgerlichen Zeitgenossen die Tradition der Sinfonie mit Beethoven als beendet erklärten, griff Hartmann sie auf eigene, neue Weise auf, um Mensch lichkeit in kapitalistischer Gefährdung zu zeigen, um für Menschlichkeit einzu treten. So finden sich in Hartmanns Tonsprache Traditionslinien, die auf Bruck ner oder Tschaikowski weisen, neben solchen, die an Berg oder Webern er innern. Die in den Jahren 1951 bis 1953 entstandene 6. Sinfonie wurde 1953 in München unter Eugen Jochum uraufgeführt. Sie ist das erfolgreichste und wohl auch bedeutendste Werk Hartmanns. Äußert sich im großangelegten langsamen ersten Satz der „Espressivo-Musiker" Hartmann mit kühnen und erregenden Klangvisionen (Mandoline, Harfe, Celesta und das vierhändig gespielte Klavier spielen eine bedeutende Rolle) ebenso wie in der weitgespannten, tragisch er regten und drängenden Melodik, so zeigt der zweite Satz das Vermögen des Komponisten, höchst kunstvolle Gestaltung mit nie nachlassender Intensität des Ausdrucks zur Einheit zu bringen. Der erste Satz des nur zweisätzigen Werkes ist ein Adagio gewaltigen Aus maßes, überdies der ergreifendste langsame Satz, den Hartmann geschrieben hat. Er beginnt mit einer gleichsam improvisierenden Fagottmelodie, vom Pau kentremolo grundiert, ehe im Englischhorn das Hauptthema, eine elegische, von kleinen Intervallschritten bestimmte Weise, erklingt. Holzbläser und Strei cher wechseln sich im weiteren Verlauf mehrfach ab. In großangelegter Steige rung führt die Entwicklung über jähe Klangausbrüche und in allmählicher Temposteigerung (Appassionato) zu einem Fortissimoabschnitt mit schmerzli chen Trompetenrufen (Largamente) und von dort über ein rhythmisch scharf akzentuiertes Allegro moderato con fuoco zum tragischen Höhepunkt (Adagio), einem polytonalen Klanggebilde in dreifachem Forte. Danach schwächen sich die Energien rasch ab. Von dem Hauptthema bestimmt, führt das musikalische Ge schehen zum Ausklang in dreifachem Piano. Zuvor kommt es allerdings noch einmal zu einem von erregten Schlagzeugakzenten gestützten Fortissimoaus- bruch, dem die Oboe mit einer kleinen Kadenz beschwichtigend antwortet. Dem Schmerz und Aufbegehren des ersten Satzes folgt im zweiten und letzten Satz (Presto Allegro assai) betonte Konstruktivität und strenge Gebundenheit des musikalischen Materials, denen gleichwohl oder auch gerade deshalb mit reißender Schwung und zielgerichtetes Vorwärtsstreben als emotionale Grund haltung eigen sind. Nach 11 Einleitungstakten (Presto) beginnt das kontrapunk- tische Meisterstück dieser Toccata variata im Allegro assai mit einer ersten Fuge. Die Bratschen exponieren das Thema. Sein Beginn erweist sich als me lodische Umkehrung des Anfangs der Englischhornmelodie aus dem ersten Satz. Es folgen zwei weitere Fugen, die im Grunde Variationen der ersten sind. In der Ausarbeitung der einzelnen Fugen bedient sich Hartmann vieler kontrapunktischer Künste wie Krebs, Engführung, Spiegelkanon. Die polyphonen Verläufe münden zudem auch immer wieder in dissonante Klangballungen, in denen das Schlagzeug hervortritt. Die zweite Fuge wird nach einem heftigen