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ZUR EINFÜHRUNG Franz Schubert hat insgesamt zehn Sinfonien entworfen; bei der 7. und 8. nach neuer Zählung — kam er freilich nicht über Skizzen hinaus. Die ersten sechs Sinfonien entstanden bereits in den Jahren 1813 bis 1817, also zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr des Komponisten. Es handelt sich dabei um liebens würdige Jugendwerke, die zumeist für ein Wiener Liebhaberorchester geschrie ben worden waren. Der Einfluß der Vorbilder Haydn, Mozart und Beethoven ist in den Jugendsinfonien stärker als in anderen Arbeiten seiner frühen Schaf fensperiode spürbar. Mit der 5. Sinfonie B-Dur aus dem Jahre 1816 wandte sich Schubert von Beethoven, dem er in seiner „Vierten“, der sogenann ten „Tragischen", gehuldigt hatte, wieder Mozart zu, dem er schon in seinen beiden ersten Sinfonien verpflichtet war. Unmittelbar hintereinander entstanden ein Allegro für Streicher, eine Festtags-Ouvertüre und die 5. Sinfonie für kleine Besetzung, ohne Klarinetten, Trompeten und Pauken. Alle drei Werke weisen die gleiche Tonart auf: B-Dur. Völlig zu Recht hat man Schuberts „Fünfte", ein wahres Kabinettstück musi kalischer Intimität, auf das Orchester übertragene Hausmusik genannt. Für den Hörer gibt es hier keinerlei Probleme. Die Sinfonie erweist sich als ein frisches, heiteres und melodienreiches Gegenstück zu Mozarts g-Moll-Sinfonie, die Schubert als Vorbild gedient haben mag. Den ersten Satz (Allegro) bestimmt im wesentlichen ein anmutig-schlankes Thema, das spielerisch-locker imitiert wird. Innig und schwärmerisch gibt sich das Andante, das im ersten Teil Zauber flöten-Stimmung aufkommen läßt. Der dritte Satz, ein eigentümlich schroffes Menuett in g-Moll, kopiert fast den entsprechenden Satz in Mozarts g-Moll Sinfonie. Betont lyrisch ist der Trioteil, eine gefällige Wiener Ländlerweise über einem bordunmäßig festgehaltenen Baß. Das Finale (Allegro vivace), ein klarer Sonatensatz mit zwei Themen, besitzt einen volkstümlich-fröhlichen Charakter, neben Mozarts auch Haydns Einfluß erkennen lassend. Daß aber auch Schu berts persönliche Handschrift hier besonders zu spüren ist, macht den Reiz dieses Satzes aus. Der österreichische Komponist Alban Berg, anfänglich kleiner Wiener Be amter, in den Jahren 1904 bis 1910 Schüler von Arnold Schönberg, dessen spä tere Kompositionsmethode „mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" in per sönlicher Modifizierung Grundlage seines Schaffens wurde, 1930 zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste ernannt und 1933 von den Faschisten verfemt und verboten, schuf mit seiner 1925 von Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper uraufgeführten Oper „Wozzeck" ein Hauptwerk des musikalischen Expressionismus, das würdig neben den Leistungen der expressionistischen Ma ler Marc, Nolde, Pechstein, Schmidt-Rottluff, Kirchner, Kokoschka steht. Das nicht sehr umfangreiche, jedoch höchst bedeutende Gesamtwerk Bergs gipfelt fraglos im musikdramatischen Teil, ausgenommen sei das Violinkonzert, vollendet vier Monate vor seinem Tode am Weihnachtsabend 1935 in Wien, ein Werk, zu dessen Gunsten er die Arbeit an der Oper „Lulu" abbrach. Auch hier haben wir — wie im „Wozzeck" — eine der hervorragendsten musikalischen Kunstäußerungen der ausklingenden bürgerlichen Kunstepoche vor uns, eine Komposition, die die zwingenden lyrischen und dramatischen Qualitäten ihres Autors, seine unerhörte Tiefe der Empfindung, seine ausgesprochene Leiden schaftlichkeit wie seine sensitive Feinnervigkeit und Schwermut offenbart. Die neuartige Tonsprache Alban Bergs, die sich nicht zuletzt in einer spannungs geladenen Harmonik äußert, empfindet man heute trotz ihrer typisch expressio nistischen Haltung als klassisch-allgemeingültig. Bergs Violinkonzert ist „dem Andenken eines Engels" gewidmet, der 18jährig an Kinderlähmung verstorbenen Manon, Tochter der Witwe des Komponisten Gustav Mahlers aus zweiter Ehe mit dem Bauhausarchitekten Gropius. Der er ste Satz des Werkes zeigt das lebensfrohe Kind, der zweite sein Sterben und die „Befreiung vom Tod" (eine gewisse Parallele läßt sich also zu „Tod und Verklärung" von Richard Strauss ziehen. Dennoch: welch ein Unterschied!). Ein tragisches Schicksal wollte es, daß dieses in künstlerischer und menschlicher Einsamkeit geschaffene Opus der „Schwanengesang" des Komponisten werden sollte. Die Schatten eines nahen Todes geistern über dem ergreifenden musi kalischen Geschehen, in dem sich Programmatisches und Absolutes, Expressives und Konstruktives zu symbolischem Ausdruck verdichten. Bei ernstem, elegi schem Grundcharakter, nur episodenhaft konzertant-virtuos aufgelockert, be sitzt das Violinkonzert zwei Hauptteile, die in sich nochmals zweigeteilt sind: I. Andante-Allegretto, II. Allegro-Adagio. Am ehesten vielleicht dringt man in das Wesen des Werkes, in seine Organik ein, wenn man mit der ungewohnten Satzfolge (langsam, lebhaft, schnell, sehr langsam) bildhafte Vorstellungen ver knüpft: der erste Satz gibt die Anmut und Reinheit, die ungebrochene Laune und Heiterkeit des Kindes wieder, das schon auf seinem Schmerzenslager liegt (Andante), im Allegretto scheint es zu träumen. Im zweiten Satz gestaltet der Komponist die Sterbeszene mit visionärer Eindringlichkeit. Das schmerzhaft zer rissene Allegro schildert das Aufbäumen des kranken Mädchens gegen den Tod, das Adagio sein Sterben, seine ergreifende „Verklärung". Für den musikalischen Aufbau des Werkes entscheidend wird das am Beginn und Schluß des Andante erscheinende Quintenmotiv, das im Allegretto wieder auftaucht, zu Anfang des Allegro von den Streichern und Bläsern „verzerrt" wird und im Schlußakkord des Adagio im gedämpften Streicherklang „erlischt". Zu diesem Motiv stehen in engster Beziehung die Hauptgedanken der einzelnen Sätze, die aus einer zwölftönigen Terzenreihe entwickelt werden. Im Allegretto begegnen (mit regelrechter dreimaliger Triobildung bei Wiederholung des Hauptsatzes) walzer- und ländlerhafte Anklänge, ein Kärntner Volkslied scheint Berg inspiriert zu haben. Der Todeskampf im zweiten Satz (Allegro) wird durch eine erregte Kadenz des Soloinstruments mit Orchesterbegleitung dargestellt. Als eine der großartigsten Stellen empfinden wir — ähnlich dem Einsatz des BACH-Themas in der „Kunst der Fuge" — gegen Ende des zweiten Satzes, im Adagio, den Eintritt des Bachschen Sterbechorales „Es ist genug" (aus der Kan tate „O Ewigkeit, du Donnerwort"), der dann völlig organisch in die Zwölfton struktur eingefügt wird. Der Gefühlsausdruck dieser Stelle ist einzigartig und weist mit Entschiedenheit auf die Neuartigkeit der Bergschen Tonsprache hin, die, „eine Verschmelzung von Klangfarbe und Harmonik", in „Vergeistigung die musikalischen Elemente neu zusammenfaßt" (Wörner). Der Bach-Choral setzt