Volltext Seite (XML)
Die melodischen Linien mit ihren spannungserfüllten Intervallschritten, die leicht überschaubaren akkordischen Zusammenklänge der Singstimmen werden von einer an den variablen Metren geschulten Rhythmik getragen. Ohne in Ton malereien zu verfallen, eignet der Musik große Bildhaftigkeit. Dieser Plastizi tät des musikalischen Ausdrucks dient auch das sparsam, aber charakteristisch eingesetzte Orchester, dessen kleinste Motive, Läufe des Klaviers, Klänge der Röhrenglocken, der Trompeten von eminenter Bedeutung für das Ganze sind. Entspechend den „sechs Schöpfungstagen" gliedert sich die Kantate in sechs Abschnitte, die in sich eine Einheit bilden. Formale, motivisch-thematische Be ziehungen schlagen Bögen zu den einzelnen Sätzen, verbinden auch Anfang und Schluß des Werkes, indem der Komponist zu gegensätzlichem inhaltlichem Geschehen das gleiche musikalische Material einsetzt, damit andeutend, daß sich der Kreislauf Leben — Vergänglichkeit geschlossen hat: Symbolhaft er klingt der Choral-Cantus-firmus „Es ist nun aus mit meinem Leben" in der Trompete gerade über der Textstelle „Et creavit Deus hominem". Dieser und das Paternoster bringen den Gipfelpunkt des sechsten Schöpfungstages. Horst Seeger hat auf die inhaltlich bedingte Entwicklung hingewiesen, die feststehen de Textformeln wie „Et vidit Deus, quod esset bonum" oder das „Et factum est ita" im Verlauf der Komposition erfahren, damit „die wachsende Vermensch lichung des gesamten Inhalts" widerspiegelnd, die im sechsten Teil „mit der legendären Erschaffung des Menschen ihre Krönung" findet. Und Walther Vet ter stellte zu Recht fest: „Wagner-Regenys Genesis gehört zu jener Musik, die man oft hören muß, um sie innerlich aufzunehmen und sie zu verstehen; die man immer wieder hören kann, ohne ihrer überdrüssig zu werden." Der zu seiner Zeit auch als Pianist und Dirigent angesehene norwegische Kom ponist Edvard Grieg hatte in seiner Eigenschaft als erster Nationalmusi ker seines Landes keine Vorgänger, keine Tradition, an der er hätte anschlie ßen können. Er war der erste skandinavische Komponist, der die Volksmusik seiner Heimat in die Sphäre der Kunstmusik hob, nicht aber, indem er folklo- ristische Elemente wörtlich zitierte, sondern indem er sein eigenes Schaffen an der charakteristischen Wesensart norwegischer Volksmusik ausrichtete. Am Ende seines Lebens schrieb Grieg einmal: „Künstler wie Bach und Beethoven haben auf den Höhen Kirchen und Tempel errichtet. Ich wollte . . . Wohnstätten für die Menschen bauen, in denen sie sich heimisch und glücklich fühlen . . . Ich habe die Volksmusik meines Landes aufgezeichnet. In Stil und Formgebung bin ich ein deutscher Romantiker der Schumann-Schule geblieben. Aber zugleich habe ich den reichen Schatz der Volkslieder meines Landes ausgeschöpft und habe aus dieser bisher noch unerforschten Emanation der nordischen Volks seele eine nationale Kunst zu schaffen versucht." Mit seiner bodenständigen Kunst, seinen schwermütig-lyrischen, aber auch kräftigen Liedern, seinen eigen willigen, häufig tänzerisch profilierten kleinen Instrumentalformen eroberte Grieg die Gunst der Musikfreunde in aller Welt. Seine immer und im guten Wortsinne volkstümliche Musik ist gekennzeichnet durch eine sinnenhafte Melo dik, eine herbsüße Harmonik, farbig-satte Instrumentation und eine aparte, von skandinavischer Folklore beeinflußte Rhythmik. Unter Edvard Griegs wenigen größeren Kompositionen ragt das 1868, also mit 25 Jahren geschriebene Klavierkonzert a-Moll o p. 16 bedeut sam heraus. Der Komponist widmete es dem norwegischen Pianisten Edmund Neupert, der es 1869 in Kristiania erfolgreich uraufführte. Das Beispiel des Schumannschen Klavierkonzerts a-Moll hat maßgeblich die Gestaltung dieses Griegschen Jugendwerkes beeinflußt, das übrigens ebenfalls mottohaft vom Soloinstrument eröffnet wird. Aber auch die virtuose Klaviertechnik Chopins und Liszts mag Anregungen geboten haben. Nicht ohne Grund hat Hans von Bülow Grieg einmal den „Chopin des Nordens" genannt. Nach dem energischen Vor spruch stellt das Orchester das anfangs rhythmisch-markante, dann in fließende melodische Bewegung übergehende Hauptthema vor, das auch vom Klavier auf gegriffen wird. Der Solist leitet sodann zum lyrischen Seitenthema über, das zu erst in den Celli erkingt; rhapsodisch freizügig, gedrängt ist die Durchführung. Zum pianistischen Höhepunkt des Satzes wird die große Kadenz, in die die Reprise mündet. Das Hauptthema wird hier prächtig ausgeschmückt. In der kur zen Coda erklingt nochmals das Einleitungsmotto. Echten Griegschen Personal stil bietet der zweite Satz (Adagio) mit seiner ruhig strömenden Des-Dur-Me lodie, die gedämpfte Streicher vortragen, bis sie der Solist aufgreift und zu einer imposanten Steigerung führt. Nur durch eine Fermate getrennt, schließt sich das Finale an. Norwegische Volkstanzrhythmen bestimmen das Haupt thema. Einer energiegeladenen Kadenz folgt eine stürmische Stretta. Dann wird der Satz mit dem lyrischen Seitenthema in jubelnder Ausdruckssteigerung gekrönt und beschlossen. Johannes Brahms’ Sinfonie Nr. 2 D - D u r o p. 73, im Jahre 1877 komponiert, entstammt einer glücklichen Lebensperiode des Meisters, deren ru hige Heiterkeit sich in den meisten der in dieser Zeit vollendeten Werke wider spiegelt. So ist auch die Grundstimmung der D-Dur-Sinfonie durch Lebensbe jahung, Lebensfreude und innere Gelöstheit gekennzeichnet. Das Werk, das oft als die „Pastorale" des Komponisten bezeichnet wurde, steht in starkem Gegen satz zu der vorangegangenen, leidenschaftlich-kämpferischen c-Moll Sinfonie und verhält sich zu ihr vergleichsweise etwa wie Beethovens „Sechste" zu seiner „Fünften" oder Dvoraks achte zur siebenten Sinfonie. Landschaftliche Ein drücke, Naturstimmungen sollen auch bei der Entstehung dieser Brahms-Sinfonie eine wesentliche Rolle gespielt haben. „Das ist ja lauter blauer Himmel, Quel lenrieseln, Sonnenschein und kühler, grüner Schatten. Am Wörther See muß es doch schön sein”, äußerte der dem Komponisten befreundete Chirurg Theodor Billroth zu der in wenigen sonnenerfüllten Sommermonaten in Pörtschach am See in den Kärntner Bergen geschriebenen Komposition, die in ihrer pastoralen Lieblichkeit dem ein Jahr später dort entstandenen Violinkonzert nahe verwandt ist. „Eine glückliche, wonnige Stimmung geht durch das Ganze, und alles trägt so den Stempel der Vollendung und des mühelosen Ausströmens abgeklärter Gedanken und warmer Empfindungen." Doch entbehrt das sehr einheitliche und geschlossene, an herrlichen Einfällen überreiche Werk trotz seiner lichten und freudigen, lyrischen Grundhaltung, trotz seiner Bindung an die „heitere" klas sische Themen- und Formenwelt, keineswegs kraftvoller, ja zum Teil auch tra gischer Töne. Am 30. Dezember 1877 fand die Uraufführung der Sinfonie (die Brahms übrigens in einem Brief an seinen Verleger Fritz Simrock humorvoll „das neue liebliche Ungeheuer" nannte) durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Hans Richter stat; Clara Schumanns Voraussage „Mit dieser Sinfo nie wird er auch beim Publikum durchschlagenderen Erfolg haben als mit der ersten" sollte sich dabei nachhaltig bestätigen. Eine meisterhafte variationsmäßige Durchdringung und Bindung der einzelnen gegensätzlichen Themen, aus der eine ungemein starke Einheitlichkeit der Stim mung erwächst, charakterisiert gleich den ersten Satz (Allegro non troppo). Entscheidend für den Aufbau des gesamten Werkes ist das aus drei Tönen (d — cis — d) bestehende Anfangsmotiv, das in Violoncelli und Kontrabässen quasi wie ein Motto dem in den Hörnern einsetzenden Hauptthema voraus geschickt wird und als Grundmotiv in zahlreichen Varianten und Ableitungen die Sinfonie durchzieht. In Hörnern und Holzbläsern erklingt das Hauptthema des Satzes wie ein Frage- und Antwortspiel; geheimnisvolle Klänge der Posau nen und der Baßtuba folgen. Nach diesem wie eine selbständige Einleitung anmutenden Beginn tragen die Violinen eine weitgeschwungene, bereits ab geleitete Weise vor. Es verbreitet sich eine ausgelassene Fröhlichkeit, die jedoch