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DRESDNER PHILHARMONIE Dienstag, den 29. Auoust 1978, 20.00 Uhr Mittwoch, den 30. August 1978, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 1. SONDERKONZERT Dirigent: Herbert Kegel Solist: Siegfried Stoekigt, Berlin, Klavier George Gershwin Suite aus „Porgy and Bess" 1898-1937 Rhapsody in Blue PAUSE Kubanische Ouvertüre Ein Amerikaner in Paris — Sinfonische Dichtung Zum 80. Geburtstag des Komponisten am 26. September 1978 ZUR EINFÜHRUNG Was immer auch die nostalgischen Illusionen über die „Goldenen Twenties" der Kunst von deren sozial höchst unterschiedlichen Existenzbedingungen, Ent wicklungswidersprüchen und Ausdruckscharakteren verdecken müssen oder ver drängen wollen: in der Gestalt George Gershwins wie in den weltbe kannten Klängen seiner Musik scheint unverloren eine glänzende Facette auf zublitzen, die solchen Vorstellungen leicht als Bestätigung dienen mag. Zwei fellos galt diese schmissig-nervöse Musik mit ihren ebenso aggressiven wie fremdartig süßen Tönen gerade damals, als sie nach der Weltwirtschaftskrise ab Mitte der zwanziger Jahre Amerika und Europa eroberte, als das stilvoll passende akustische Mobiliar zu einer Lebenshaltung, die sich durch organi sierte Vitalität, dekorative Sinnlichkeit und emsigen Aktionismus ihres bedroh lich gärenden sozialen Bodens zu entheben trachtete. Als bestimmend für den widerstandslosen Erfolg von Gershwins Musik wird man die Tatsache benen nen müssen, daß sie ihr eigentümliches Produktionsgesetz als Gestus ange nommen und ausgestellt hat: es ist die im unerbittlichen Konkurrenzkampf der amerikanischen Vergnügungsindustrie erprobte und erhärtete Verbindung von unbedingter Risikobereitschaft und genauestem Kalkül, von individueller pro duktiver Phantasie und kollektivem Management. Man lese Gershwins Leben nach, man verfolge seinen kometenhaften Aufstieg vom unauffälligen Vorstadtkind zum schwerreichen Komponisten und zum um jubelten Idol einer Nation. Wer dächte dabei nicht an die Bilderbuch-Story vom smarten, tüchtigen, erfolgreichen Selfmademan, den die kapitalistische Welt gelegentlich hervorbringt und benötigt! Gewiß sind solche prosperieren den, vitalen Züge der Persönlichkeit zusammen mit dem Gestus des American way of life und den Strukturen hochkommerzialisierter Unterhaltungsindustrie in Gershwins Musik eingegangen. Aber man würde sie oberflächlich hören und falsch verstehen, wenn man in ihr nicht auch den programmatischen Impuls zur Sehnsucht nach dem „anderen Amerika", zur Solidarität mit dem Schicksal und dem Lebensgefühl der Masse der Unterdrückten, Deklassierten und Verachte ten vernähme. Denn die Darstellung ihrer Gefühle war vor allem Gershwins Intention. Die musikalische Lösung dieser geschichtlich neuen Aufgabe — die differenziert, anspruchsvoll, wie selbstverständlich und elegant in einem ge lang — trug somit die entscheidende Bedingung ihrer fortwährenden Faszina tionskraft in sich selbst. Gershwins Leistung besteht nicht schlechthin darin, eine der geschichtlichen Bedeutung der USA und der spezifisch nordamerikanischen Mentalität in un serem Jahrhundert voll entsprechende Musik geschaffen zu haben. Die Eman zipation aus dem akademischen Schlepptau der europäischen Tradition vollzog sein Zeitgenosse Charles Ives weit eher und radikaler, wenngleich dadurch auch zunächst um den Preis vollkommener Isolierung. Gershwins Ideen und Fähig keiten zielten auf ein klassen- und rassenvermittelndes Idiom nationaler Popu lärmusik von hohem Rang, zu der er auf originelle Weise bis dahin für unver einbar gehaltene Elemente verschmolz. Diese Elemente entstammen im wesent lichen der gängigen Schlagermusik, den ursprünglichen wie bereits „sinfonisier- ten" Typen des Jazz, den Formen und Techniken der großen klassischen Kon zert- und Musiktheatergattungen sowie einigen harmonisch-klanglichen Entdek- kungen bedeutender zeitgenössischer, vor allem französischer Komponisten. Auf ihre Weise und unter anderen Bedingungen verkörpert Gershwins Musik ein auf nichteklektische, produktive Synthese, Mehrfunktionalität und ästhetisch qua lifizierende Gebrauchsfähigkeit abzielendes experimentelles Konzept, wie es vergleichsweise und allerdings mit politischer Konsequenz damals nur erst von Hanns Eisler realisiert worden ist. GEORGE GERSHWIN