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bergs mit direktem Realitätsbezug: Ein überlebender, der die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Ghetto überstand, schildert den Ab transport seiner Leidensgefährten in den Tod, gibt ihre Verzweiflung und Auf lehnung wieder, hält die Brutalität der faschistischen Peiniger fest. Für die musikalische Gestaltung der 1947 im amerikanischen Exil fertig gestellten Kom position setzt Schönberg die von ihm differenziert entwickelten Ausdrucksmittel und Zwölftontechniken überzeugend ein. Mit knappen Motiven (Trompetensig nal, Trommelwirbel) deutet die Orchestereinleitung die bedrückende Situation an. Den minutiösen Bericht des Sprechers begleitet eine Musik von greller, erre gender Dramatik, aus der sich das unheimliche Ticken des Xylophons, eine zart aufblühende und verwehende Geigenmelodie und schrille .Seufzermotive' als Zeichen größten Schmerzes — nicht nur des physischen der Opfer — her ausheben. Zum erschütternden Höhepunkt wird der einstimmige, vom Orche ster umspielte religiöse Gesang des Männerchores, das Schma Jisroel. Die Stimme des Glaubens als Entgegnung auf das barbarische Wüten antihuma ner Kräfte — das ist das (infolge der begrenzten Weitsicht ungenaue) Fazit, das Schönbergs Melodram zieht. Als document humain, ,in dem die höchste Synthese von außermusikalischen und rein musikalischen Elementen erreicht ist' (Leibowitz), und dessen leidenschaftliches Engagement den Hörer zur Re aktion, zum Protest zwingt, nimmt es in der bürgerlichen Musik jener Zeit eine einzigartige Stellung ein." Der Text, den Schönberg selbst (in englischer Sprache) formulierte, beruht auf Berichten', die er direkt oder indirekt aus den Schreckenstagen des Warschauer Ghettos im Jahre 1943 erhalten hatte und die in ihm eine tiefe Erschütterung hervorriefen. Die Rolle des Sprechers ist um eine einzige Mittellinie notiert und rhythmisch streng fixiert. Varianten in der Höhe des Tonfalls werden durch über bzw. unter dieser Orientierungslinie plazierte Notation angedeutet. Die Technik des Melodrams bzw. Sprechgesangs entwickelte Schönberg zu höchster Meisterschaft und gestaltete mit dem „überlebenden von Warschau“ wohl eines seiner musikalisch konzentriertesten, in seiner grellen Dramatik und spontanen Gefühlswirkung erregendsten Werke. Es stellt das Grauen der dü steren Szenerie so unmittelbar dar, wie es in seinem heroischen Schluß erlö send wirkt (im Kerkerbild des „Fidelio“ beschwor Beethoven ähnliche Stim mungen; die rettende Trompete blieb freilich den Opfern der faschistischen Barbarei versagt). Die Uraufführung erfolgte am 4. November 1948 in Albuquerque mit dem dortigen städtischen Sinfonieorchester unter Kurt Frederick im Rahmen einer Veranstaltung der Universität von New Mexiko. Das nur 7 Minuten lange Werk wurde zweimal hintereinander aufgeführt. Verharrten die Zuhörer nach der ersten Darbietung in erschüttertem Schweigen, so nahm der Beifall nach der zweiten stürmische Formen an. Das von Schönberg infolge zunehmender Au genschwäche nur als Particell notierte Werk brachte übrigens der französische Komponist und Dirigent Rene Leibowitz in Partiturform. Beziehungsvoll ist in unserem heutigen Konzert diese Komposition Schönbergs einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie vorangestellt: Der Zerstörung des Menschen durch den Menschen, wie sie im „überlebenden von Warschau“ zum Ausdruck kommt, wird die humanistische Botschaft Schillers und Beethovens entgegengesetzt, die in der Auffassung gipfelt, alle Menschen mögen Brüder werden. „Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerich tet .. . überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschenge schlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im ganzen damit beschaffen sein mag, welches zu untersuchen und näher zu bestimmen nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle Vorbe halten ist." Diese Worte schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbe jahr Ludwig van Beethovens. Es erübrigt sich zweifellos nachzuweisen, wie sinnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehrenvolle Rolle" erfüllt hat. Aber „Weltliteratur" ist nicht nur literarisch zu begreifen, sondern auch im musikalisch-musikhistorischen Sinne. Beethoven, der große Wiener Klas siker, schrieb kurz vor der Vollendung der neunten Sinfonie, im April 1823: „. . . so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust." In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu charakterisieren, was man den deut schen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hin weis auf Goethes „Faust“ und Beethovens „Neunte“. Zwei Ebenbürtige schu fen im Bestreben der „Besten" weltumspannende Botschaften, die einzigartig sten Dokumente wohl aus der deutschen klassischen Kulturperiode. Hat Goethe in seinem „Faust“, der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner gan zen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte" Ausdruck seiner „Weisheit und Philosophie", seine weltanschaulich-künstleri sche Offenbarung. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die endgültige Gestaltung seines größten Werkes gerungen. Bereits der 23jährige Komponist trug sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie gedacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 findet sich ein Entwurf für die Textworte „... muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven' das Goethe-Gedicht „Kleine Blu men, kleine Blätter“ auf eine Melodie, die im wesentlichen schon das „Freu denthema der neunten Sinfonie vorwegnahm. 1812 bestand die Absicht, eine Festouvertüre mit Chorgesang über Schillers Freuden-Ode zu schaffen. Die er sten Skizzen zur neunten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informiert eine Tagebucheintragung über den Plan einer Sinfonie mit chorischem Finale. Erst 1822 begann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium" endgültige Gestalt anzu nehmen. Langsam reifte nun auch die Chor-Lösung des Finales, das — im Fe bruar 1824 vollendet — schließlich den monumentalen Bau der Sinfonie krönte, einer Sinfonie „auf die Art“ wie schon Beethovens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch weit größer gehalten als selbe". Beethovens Ringen um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonielose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten 1 Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte" auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der bereits Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beethoven ursprünglich rein instrumental vorgestellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine Fuge über das variierte Thema vom zweiten Satz war gedacht. Man sieht also, daß die Idee der neunten Sinfonie für ihren Schöpfer nicht von vornherein feststand, sondern daß sie erst während der geistigen und formalen Auseinandersetzungen reifte und Gestalt annahm. Da Worte die Aussage der Musik konkretisieren, ist diese Idee der „Neunten“ untrennbar mit den Schil- lerschen Versen verbunden, deren Auswahl wiederum bezeichnendes Licht auf die Persönlichkeit des Komponisten, auf dessen humanistische, ethische und religiöse Anschauungen wirft. Die sinfonische Gestaltung des Chorfinales, die Verbindung der vorausgehen den drei instrumentalen Sätze mit dem abschließenden Vokalteil war ein mü hevoller Prozeß. Das Rezitativ sollte ursprünglich mit den Textworten „Heute ist ein feierlicher Tag .. . dieser sei gefeiert mit Gesang“ beginnen. Dann dachte