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Den Flügel hatte ich absichtlich nicht aufs Land mitgenommen, weil ich versu chen wollte, ohne ihn zu komponieren. Bisher hatte ich gewöhnlich am Flügel geschrieben, aber ich mußte feststellen, daß das ohne Flügel komponierte the matische Material häufig von besserer Qualität war... Ich trug mich mit dem Gedanken, ein ganzes sinfonisches Werk ohne Flügel zu komponieren. Bei einem solchen mußten auch die Farbtöne des Orchesters klarer und sauberer sein. So entstand der Plan einer Sinfonie im Haydnschen Stil, weil mir Haydns Technik nach meinen Arbeiten in der Klasse Tscherepnins irgendwie besonders klar geworden und es unter so vertrauten Verhältnissen leichter war, sich ohne Klavier in die gefährliche Flut zu stürzen. Es schien mir, daß Haydn, wenn er jetzt noch lebte, seine eigene Art der Komposition beibehalten und gleichzeitig etwas von dem Neuen übernommen hätte. Solch eine Sinfonie nun wollte ich komponieren: eine Sinfonie im klassischen Stil. Als sie anfing, reale Formen anzunehmen, nannte ich sie .Klassische Sinfonie': erstens ist es so einfacher; zweitens Übermut, um die Gänse zu ärgern, und in der stillen Hoffnung, daß ich letzten Endes dabei gewinne, wenn die Sinfonie sich im Laufe der Zeit wirk lich als klassisch erweisen sollte." Tatsächlich wurde das Werk, das Prokofjew als erste Sinfonie in seine Werkliste aufnahm, eine Schöpfung, die sich weit über musikalische Modeerscheinungen der Entstehungszeit erhob. Früher als viele andere Kompositionen des sowjeti schen Meisters errang die dem Studienfreund Boris Assafjew gewidmete Klas sische Sinfonie nach ihrer von Prokofjew selbst geleiteten Petrograder Urauf führung am 21. April 1918 Weltgeltung. Die ersten Ideen zu der viersätzigen Sinfonie reiften bereits in der Konservato riumszeit, als sich der Student mit der Musik der Wiener Klassiker, aber auch mit Orgelmusik alter Meister beschäftigte. Schon 1916 entstand die Gavotte, der spätere dritte Satz. Dann folgten Entwürfe zum ersten und zweiten Satz. Während seines Land aufenthaltes im Sommer 1917 arbeitete Prokofjew diese Skizzen aus und schloß die vollständig instrumentierte Partitur am 10. September desselben Jahres ab. Unbeschwert, lebensfroh lächelnd, ja jugendlich-übermütig musiziert der junge Prokofjew, schaltet und waltet nicht ohne Ironie und Pikanterie, mit vertrauten Tonleiterfiguren, Oktavsprüngen, kapriziösen Trillern und Vorschlägen, mit cha rakteristischem Piano- und Tutti-Wechsel und stilisiert Melodietypen des 18. Jahrhunderts aus seiner Sicht, die jeden Gedanken an historisierende, akade mische Nachahmung ausschließt. Anmut, Eleganz und Ebenmaß zeichnen das Werk aus, das, durchsichtig instrumentiert, die Haydnsche Orchesterbesetzung vorschreibt. „Die Klassische Sinfonie", so stellte der sowjetische Musikwissen schaftler W. Delson fest, „hat ein Anrecht auf diese Bezeichnung nicht nur ihrer äußeren Ähnlichkeit mit der Haydnschen Sinfonik wegen. Sie ist klassisch in der Genialität ihrer Handschrift, in ihrer knappen Klarheit und weisen Einfach heit wie in ihrer außergewöhnlichen Ausdruckskraft". Der erste Satz (Allegro) hat Sonatenform. Nach zwei Einleitungstakten beginnt sogleich das graziöse Hauptthema, dessen zweite Hälfte dominierend ist für die Entwicklung der Durchführung, deren imposanter Schluß jedoch von dem ironi schen Seitenthema bestimmt wird, das von der Dominanttonart A-Dur zur Haupt tonart findet. Groteske Oktavsprünge sowie lustige Vorschläge in den ersten Violinen, die gravitätisch-altväterlich von den Fagotten sekundiert werden, wei sen auf die launische, kapriziöse, ja kokette Art des Musizierens hin, die diesen dennoch ungemein zuchtvoll gearbeiteten Satz kennzeichnet. Typisch auch die unerwartete Wendung nach C-Dur und die ebenso unbekümmerte Rückkehr nach D-Dur im ersten Thema, dessen Einleitung, ein kurzer Aufschwung des D-Dur- Dreiklangs, zugleich auch die treffliche Schlußpointe des Satzes bildet. Die Reprise lehnt sich stark an die Exposition an. Der zweite Satz (Larghetto) beginnt mit vier verhaltenen Einleitungstakten. An schließend stimmen die ersten Violinen eine wundersam zärtliche, lyrische Me lodie an, die den Satzablauf bestimmt. Nach einem Mittelteil mit Sechzehntel bewegung und Pizzikatopassagen der Streicher runden die gemächlich wiegen den Anfangstakte nach veränderter Reprise des ersten Teiles den Satz ab. — Eine ironisierende; geistreich-elegante Gavotte (Non troppo allegro), stilisiert nach dem Muster des 18. Jahrhunderts, steht an Stelle des dritten Satzes. Wieder lösen gradlinige Oktavsprünge einen gravitätischen Eindruck aus, zu dem über raschende Kadenzierungen wirkungsvoll im Kontrast stehen. Im Musette-Teil der Gavotte klingt ein russisches Liedchen zu dudelsackartiger Begleitung. Ein virtuoses Kehrausfinale (Molto vivace) in einer sonatenartigen Form und mit Themen, die sich immer wieder auf einfache Dur-Dreiklänge stützen, schafft den frohbewegten Ausklang der Klassischen Sinfonie. Die kurze Durchführung wird vor allem getragen von kontrapunktischer Verarbeitung und Variierung der Motive des Hauptthemas wie auch des Seitenthemas. Prokofjews Bestreben, „Mollakkorde möglichst zu vermeiden", verleiht dem Finale einen ungebrochen jubelnden Charakter, zu dem auch ein betont rhythmisch-tänzerischer Grundzug des Ganzen beiträgt. Der aus Szasz-Regen (Siebenbürgen) stammende, in Berlin u. a. von F. E. Koch, E. N. von Reznicek, F. Schreker und S. Ochs ausgebildete Rudolf Wagner-Regeny, Nationalpreisträger, Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste der DDR, eine der prominentesten Komponistenpersönlichkeiten unserer Republik, war vor allem Opernkomponist, der sich namentlich in den Neher-Opern seiner mitt leren Schaffenszeit („Der Günstling“, „Die Bürger von Calais", „Johanna Balk”) als legitimer Fortsetzer des von Brecht und Weill begründeten gesell schaftskritischen, lehrhaft-epischen Musiktheaters erwies. Aber auch verschie dene Orchester- und Kammermusikwerke, Klavierstücke, Lieder und Kantaten demonstrieren eindringlich seine auf stärkere Verdichtung der melodischen Li-