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nische Entwicklungen bei kontrapunktischer Anlage geradezu kammermusikalisch subtil zu gestalten. Das Thema, das den Haydn-Variationen zu grunde liegt und am Beginn des Werkes in sei ner reizvollen Originalgestalt erklingt, entnahm Brahms dem zweiten Satz von Haydns Feldpar tita B-Dur für zwei Oboen, zwei Hörner, drei Fagotte und Serpent: eine Andante-Melodie mit der Überschrift „Choräle St. Antoni", die vermutlich von einem alten burgenländischen Wallfahrtslied stammt. Mit den Variationen über dieses Thema schuf Brahms eines der be deutendsten Variationenwerke der deutschen Musikliteratur überhaupt, dessen Anregungen bis hin zu Reger und Hindemith spürbar blei ben. Das Werk wurde übrigens in zwei Fassun gen geschrieben, für zwei Klaviere und für Or chester. In acht Variationen, die satztechnische Kabi nettstücke sind, wird eine Fülle herrlichster Mu sik verströmt, deren phantasievoller Einfalls reichtum, Formvollendung und gedanklich-gei stige Tiefe auch den Hörer fasziniert, der den Variationenzyklus nicht rationell aufnimmt, son dern die Ausdruckskraft dieser Musik gewisser maßen „unbelastet“ auf sich wirken läßt. Der Höhepunkt der Komposition ist das Andante- Finale, eine Chaconne, in der siebzehnmal ein aus dem Thema entwickelter Baßgang wieder holt wird, über dem sich neue Tonfiguren und Melodien erheben, bis das Hauptthema den festlichen Ausklang herbeiführt. Clara Schu manns Worte über das Werk, die sie anläßlich einer Leipziger Aufführung Anfang 1874 dem Dirigenten Hermann Levi schrieb, sind sympto matisch für die Begeisterung, die diese Kompo sition auslösen kann, und seien darum hier wie dergegeben: „Die Variationen sind zu herrlich! Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die Charakteristik einer jeden Variation, die prachtvolle Abwechslung von Anmut, Kraft und Tiefe oder die wirkungsvolle Instrumentation — wie baut sich das auf, mit welcher Steigerung bis zum Schluß hin!“ Das im Auftrage eines priesterlichen Marques für die südspanische Bischofsstadt Cadiz kom ponierte Orchesterwerk Die Sieben letz ten Worte unseres Erlösers am Kreuze von Joseph Haydn war für eine alljährlich durchgeführte kirchliche Andacht be stimmt. Am Karfreitag wurde das Innere der Kirche in Cadiz mit schwarzen Tüchern verhängt; nur in der Mitte erleuchtete eine Lampe das Dunkel. Nach dem Vorspiel bestieg der Bischof die Kanzel, las eines der sieben letzten Worte Christi am Kreuze vor und stellte eine Betrach tung darüber an. Alsdann schritt er zum Altar und fiel vor dem Kreuz auf die Knie. Die Stille während dieses feierlichen Zuges und der Ver ehrung des Kreuzes Hatte Haydn jeweils mit seinen insgesamt 7 Sonaten auszufüllen. Die erschütternde Schilderung des Erdbebens nach dem Kreuzestode Christi beschließt das Werk. Trotz dieses auf den Komponisten selbst zurück gehenden Berichtes ist wohl die Entstehungs geschichte keines anderen von Haydn geschaf fenen Werkes in der einschlägigen Literatur so unzutreffend und unvollkommen dargesteilt worden. Giuseppe Carpanis Nlachricht, daß^B sich um einen Wettbewerb gehandelt habe ur^ Haydns Komposition als die einzige Einsen dung preisgekrönt worden sei, beruht wahr scheinlich auf falsch verstandener Mitteilung oder ist aus ganz unsicherer Quelle geschöpft. Auf den grundlegenden Haydn-Biographen Carl Ferdinand Pohl geht die Erzählung zurück, daß dem Orchesterwerk noch eine sogenannte „Urfassung" vorangegangen sei, in der Haydn jeder Orchestersonate ein begleitetes Rezitativ für einen Baßsänger vorangestellt habe. Erst in neuesten Publikationen ist dieser Irrtum berich tigt worden. Pohl hat nämlich irrtümlich eine Stimmenkopie aus Haydns Nachlaß im Ester- häzy-Archiv, die keinen Kopistennamen trägt, aber durch Quellenvergleich und durch die An gaben im Haydn-Nachlaßverzeichnis bis die Kantatenbearbeitung des Passauer Domkapell meisters Joseph Friebert festzustellen ist, als die vermeintliche „Urfassung" ausgegeben und be schrieben. Als Entstehungsjahr für die originale Orchester fassung der „Sieben Worte“ wurde das Jahr 1785 als sicher angenommen. Man stützte sich dabei auf das der Breitkopf & Härtel-Ausgabe vorangestellte Vorwort vom März des Jaht^& 1801, das auf Haydn selbst zurückgeht: „Es sfl) ungefähr fünfzehn Jahre, daß ich von einem Domherrn in Cadiz ersucht wurde, eine Instru mentalmusik auf die sieben Worte Jesu am Kreuze zu verfertigen." Erst Denes Bartha hat in seiner Studie über Haydns „Sieben Worte" im ungarischen musikwissenschaftlichen Jahrbuch 1960 die Vermutung geäußert, daß die Orche sterfassung wohl 1785/86 komponiert worden sei, da Skizzen des Werkes auf einem Blatt mit dem ursprünglichen Schluß des Menuetts der Pariser Sinfonie Nr. 82 stehen, die sicher erst 1786 entstanden ist. Alle sechs erhalten geblie benen authentischen Abschriften der Instrumen talmusik über die „Sieben Worte“ lassen sich aber nur bis auf die Monate Januar bis März des Jahres 1787 zurückverfolgen. Demnach dürfte dieses Werk erst im Herbst oder sogar erst in den Wintermonaten des Jahres 1786 — also nach und nicht vor den Pariser Sinfonien — entstanden sein und die erste Aufführung in Cadiz am Karfreitag des Jahres 1787 (und nicht 1786) stattgefunden haben. Seine weitere Geschichte sei kurz skizziert: Während der Drucklegung der Orchesterstim men durch seinen Wiener Verleger Artaria im Frühjahr 1787 hat Haydn das Werk als Streich quartett arrangiert. Der bei Artaria erschienene Klavierauszug ist nicht von Haydn verfaßt, aber von ihm korrigiert und gelobt worden. Der Pas- , Juer Domkapellmeister Joseph Friebert hat Orchesterwerk als Kantate beiarbeitet. In dem überlieferten Passauer Klavierauszug wird als Entstehungsdatum das Jahr 1792 genannt. Da Frieberts Bearbeitung jedoch wiederum in zwei Fassungen vorliegt, ist nicht sicher zu be stimmen, ob dieses Jahr die erste oder die end gültige Bearbeitung festhalten soll. Haydn hat jedenfalls während seiner zweiten Londoner Reise nur die zweite Friebertsche Bearbeitung kennengelernt, die ihn schließlich 1795/96 zur eigenen Vokalbearbeitung anregte. Diese Vo kalfassung Haydns kam dann im Jahre 1801 — wie schon erwähnt — bei Breitkopf & Härtel in Leipzig im Druck heraus. Schließlich hat Haydns Schüler Sigismund Neukomm diese Oratorien- fassung noch einmal bearbeitet und dabei vor allem weitere Orchesterstimmen hinzugefügt. Die Orchesterfassung der „Sieben letzten Wor te" leitet eine Reihe von Werken ein, in denen Haydn den vollkommenen Ausgleich von kunst vollem Satz und schlichtem volksnahen Aus druck erreicht, der schließlich in seinen beiden letzten großen Oratorien ,der „Schöpfung“ und den „Jahreszeiten", seinen Höhepunkt findet. Haydn hat diese Allgemeinverständlichkeit in seiner Musik zu den „Sieben letzten Worten «eres Erlösers" bewußt angestrebt; in seinem >f vom 8. April 1787 an den Londoner Verle ger William Forster schreibt er: „Jedwedere So nate, oder Jedweder Text ist bloß durch die In strumental Music dergestalt ausgedruckt, daß es den unerfahrensten den tiefsten Eindruck in Seiner Seel Erwecket". Bei der Komposition war Haydn so verfahren, daß er jeweils eine pas sende Melodie zu den lateinischen Bibelworten erfand und dann sieben langsame Orchester sätze daraus entwickelte, die Empfindungen wiedergeben, aber keine Programmusik sein wollen. Haydn selbst und auch seine Zeitge nossen hielten dieses Werk für eine seiner be sten Kompositionen. Neben den Pariser Sinfo nien war es vor allem das Orchesterwerk über die „Sieben Worte", das Haydns Ruhm in Euro pa während der achtziger Jahre begründete. Die Anregung und der Auftrag zu diesem Werk kamen aus Spanien. Abschriften der Komposi tion gingen nach Süddeutschland', Berlin und Oberitalien. Darüber hinaus wurde das Werk zur gleichenn Zeit in Wien, London und Paris in der Originalgestalt gedruckt und sofort in verschiedenen Städten aufgeführt. Es darf festgestellt werden, daß die im heutigen Konzert erfolgende Wiederbesinnung auf die ses großartige, in unserer Zeit jedoch eigentlich kaum noch bekannte Haydn-Werk in seiner Originalgestalt unser Wissen um den Meister bereichert, der mit der ihm eigenen Bescheiden heit geäußert hat: „Die Aufgabe, 7 Adagios . . . aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhö rer zu ermüden, war keine von den leichtesten." Wie er diese schwierige Aufgabe bewältigt Hat, mit welcher Innigkeit und Ausdruckskraft, mit welch verhältnismäßig einfachen, ja sparsamen und niemals äußerlichen Mitteln (das Orchester besteht aus je 2 Flöten, Oboen und Fagotten, 4 Hörnern, 2 Trompeten, Pauken und Strei chern), das ist in der Tat bewundernswert und gehört zu den übereugendsten Beweisen von Haydns reifer Meisterschaft, der sich damit auch in die Reihe der großen Gestalter des Passions themas gestellt hat. Jeder der 7 Sonatensätze ist in der Partitur mit dem lateinischen Wort laut der Christus-Worte bezeichnet: Sonata I: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Sonata II: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Sonata III: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Sonata IV: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Sonata V: Mich dürstet. Son'ata VI: Es ist vollbracht. Sonata VII: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.