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8. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Donnerstag, den 30. April 1981, 20.00 Uhr Freitag, den 1. Mai 1981, 20.00 Uhr Hilhonoooioiö Dirigent: Solisten: Heidi Rieß, Leipzig, Alt Stephan Spiewok, Leipzig/Dresden, Tenor Karl-Heinz Stryczek, Dresden, Bariton Chöre: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Matthias Geissler Kinderchor der Dresdner Philharmonie Einstudierung Wolfgang Berger Chor der Staatsoper Dresden Einstudierung Hans-Dieter Pflüger Krzysztof Penderecki geb. 1933 Ludwig van Beethoven 1770-1827 Threnos — „Den Opfern von Hiroshima" für 52 Streichinstrumente Sinfonie Nr. 9 mit Schlußchor über Schillers Ode „An die Freude" für Orchester, Solostimmen und Chor d-Moll op. 125 Allegro ma non troppo, un poco maestoso Molto vivace Adagio molto e cantabile Finale (Presto — Prestissimo) ZUR EINFÜHRUNG Hiroshima: Name einer japanischen Stadt — Mahnwort fürs Weltgewissen. Hiroshi ma wurde das Opfer der ersten Atombombe. Seit Hiroshima ist die Menschheit aufgerufen, das Ende der Menschheit zu verhindern. — Am 12. Juni 1945 landete die 509. gemischte Kampf gruppe der amerikanischen Armee auf Tinian, Stützpunkt des Atombombeneinsatzes. Am 6. August wurde der Einsatz, registriert als Num- ^^r 13, geflogen: mit sieben Flugzeugen, von ^Plnen eines, die „Enola Gay“, die Bombe trug. 8.15 Uhr wurde die Bombe geworfen. Oberst Paul Warfield Tibbetts, Kommandeur der „Enola Gav", erhielt bei der Rückkehr den Orden „Distinguished Service Cross" verliehen. — Georae R. Caron, Sergeant und Heckschütze der „Enola Gav", berichtete: „Zuerst kam der arelle Blitz der Explosion. Dann eine blendende Helligkeit, in der man die Druckwelle auf uns zukommen sah, dann die pilzförmige Wolke, über der Stadt sah es aus wie ein brodelndes Meer von kochendem Pech. Nur die Ränder blieben sichtbar ... Ich weiß noch, daß ich sagte oder wenigstens dachte: „Die armen Schweine da unten, wir haben sie sicher alle umge bracht!“ — Die Bombe explodierte 66 m über dem Shima-Krankenhaus in Saiku-mnchi. Die Hitzeentwicklung betrug 50 Millionen Grad. Ein gewaltiger Explosionskegel schoß in die Luft, 60 m hoch, mit einem Durchmesser von 1 200 m am unteren Rand. 10,5 km 2 der Stadt wurden pulverisiert. Die Bombe hatte eine Sprengkraft von 20 000 Tonnen Dynamit; binnen einer zehn tausendstel Sekunde tötete sie 80 000 Men schen. Die Gesamtzahl der Toten wird auf ÄK000 geschätzt: Unheilbare, unbekannte ^Rnkeiten breiteten sich aus. Der Atombom benabwurf auf Hiroshima war der größte Selbst vernichtungsakt der Menschheit. — Wie kam es zu der Katastrophe von Hiroshima? Nicht aus militärischen, sondern aus politischen Erwä gungen. Am 8. August 1945 sollte, laut Verein barung der damaligen Alliierten, die Sowjet union Japan den Krieg erklären. Die USA such ten größere Gebietsgewinne der Sowjetunion zu verhindern, suchten insbesondere China als Bastion der Reaktion zu halten: Sie wollten Japan zur Kapitulation zwingen, ehe die So wjetunion in den Krieg eingriff. Der Atombom benabwurf erweist sich so als eine politische Intrige — als ein Verbrechen. Krzysztof Penderecki, Jahrgang 1933, gehört zu den profiliertesten polnischen Kom- pomisten der mittleren Generation. Sein „Threnos", 1960 entstanden, den Opfern von Hiroshima gewidmet, machte seinen Namen weltbekannt. — Penderecki gedenkt der Opfer der Atombombenkatastrophe durch einen in strumentalen Klagegesang für zweiundfünfzig Streichinstrumente. Klagegesang: Das will nicht wörtlich genommen werden; hier, da Schreck lichstes geschildert wird, verbot sich Singen, auch instrumentales. So werden die Streichinstru mente nicht als Melodieinstrumente benützt, sondern als bloßes Klangmittel — auch als Ge- räuschmittel. Die Musik beschwört Visionen des Grauens: Herkömmliche Ausdrucksmittel hätten da versagt, hätten verniedlicht. Penderecki, selbst Geiger, stellt den Instrumentalisten — und dem Dirigenten — ungewöhnliche Aufga ben: Da formieren sich Klangbänder, gebildet aus einer Vielzahl von Tönen in dichtestem Ab stand ; sie schwellen, jaulend, wimmernd an und ab, spreizen und schließen sich; da schrillen, eigenem Ermessen der Musiker anheimgege ben, die höchsten Töne, deren die Instrumente fähig sind, auf; da werden, durch neuartige Artikulation, fantastischste Geräusche erzeugt. Es entsteht gleichsam ein tönendes Chaos; und dennoch ist es organisiert: Alle Freizügigkeit, alle Aleatorik hat der Komponist vorgeplant. Pendereckis Hiroshima-Threnos ist mehr als nur Illustration: ein leidenschaftlicher, tief aufwüh lender musikalischer Appell. Keine Geräusch kulisse, sondern Musik von prägnanter, bedach ter Formgebung. Gerade hier beruht die Über zeugungskraft: Man spürt, in allem Chaos, Ordnung, von Menschenhand geschaffen; man vertraut auf die überwindbarkeit des Chaos. — Dies schrieb Dr. Fritz Hennenberg anläßlich der DDR-Erstaufführung von Pendereckis Threnos — „Den Opfern von Hiroshima" durch das Leip ziger Rundfunk-Sinfonieorchester unter Herbert Kegel am 20. September 1965. Beziehungsvoll ist in unserem heutigen Konzert diese Komposition Pendereckis einer Auffüh rung von Beethovens 9. Sinfonie vorangestellt: Der Zerstörung des Menschen durch den Men schen, wie sie in „Threnos" zum Ausdruck kommt, wird die humanistische Botschaft Schillers und Beethovens entgegengesetzt, die in der Auf fassung gipfelt, alle Menschen mögen Brüder werden. „Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet . . . überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschenge schlechts,von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im gan zen damit beschaffen sein mag, welches zu un tersuchen und näher zu bestimmen nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle Vor behalten ist." Diese Worte schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbejahr Ludwig van Beethovens. Es erübrigt sich zwei fellos nachzuweisen, wie sinnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehrenvolle Rolle“ erfüllt hat. Aber „Weltliteratur“ ist nicht nur literarisch zu begreifen, sondern auch im musika lisch-musikhistorischen Sinne. Beethoven, der große Wiener Klassiker, schrieb kurz vor der Vollendung der neunten Sinfonie, im April 1823: „ ... so hoffe ich endlich zu schrei ben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust." In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu charak terisieren, was man den deutschen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hinweis auf Goethes „Faust" und Beet hovens „Neunte". Zwei Ebenbürtige schufen im Bestreben der „Besten" weltumspannende Botschaften, die einzigartigsten Dokumente wohl aus der deutschen klassischen Kulturperio de. Hat Goethe in seinem „Faust", der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner gan zen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte" Ausdruck seiner „Weisheit und Philosophie", seine weltanschau lich-künstlerische Offenbarung. wesentlichen schon das „Freudenthema" der neunten Sinfonie vorwegnahm. 1812 bestand die Absicht, eine Festouvertüre mit Chorgesang über Schillers Freuden-Ode zu schaffen. Die ersten Skizzen zur neunten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informiert eine Tagebucheintragung über den Plan einer Sinfonie mit chorischem Finale. Erst 1822 be gann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium" endgültige Gestalt anzunehmen. Lang sam reifte nun auch die Chor-Lösung des Finales, das — im Februar 1824 vollendet — schließlich den monumentalen Bau der Sinfonie krönte, einer Sinfonie „auf die Art“ wie schon Beetho. vens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch we, größer gehalten als selbe". Beethovens Ringen um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonie lose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte" auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der bereits Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beet hoven ursprünglich rein instrumental vorgestellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine Fuge über das variierte Thema vom zweiten Satz war gedacht. Man sieht also, daß die Idee der neunten Sinfonie für ihren Schöpfer nicht von vornherein feststand, sondern daß sie erst wäh rend der geistigen und formalen Auseinander setzungen reifte und Gestalt annahm. Da Wor te die Aussage der Musik konkretisieren, ist diese Idee der „Neunten" untrennbar mit den Schillerschen Versen verbunden, deren Auswahl wiederum bezeichnendes Licht auf die Persön lichkeit des Komponisten, auf dessen huma nistische, ethische und religiöse Anschauunge wirft. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die endgültige Gestaltung seines größten Werkes gerungen. Bereits der 23jährige Komponist trug sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie gedacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 fin det sich ein Entwurf für die Textworte muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven das Goethe-Gedicht „Kleine Blu men, kleine Blätter" auf eine Melodie, die im Die sinfonische Gestaltung des Chorfinales, die Verbindung der vorausgehenden drei instru mentalen Sätze mit dem abschließenden Vokal teil war ein mühevoller Prozeß. Das Rezitativ sollte ursprünglich mit den Textworten „Heute ist ein feierlicher Tag . . . dieser sei gefeiert mit Gesang" beginnen. Dann dachte Beethoven an die Worte: „ Laßt uns das Lied des unsterb lichen Schiller singen!" Endlich wurde die text liche Lösung des Baß-Solos gefunden: „O Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere".