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AUSSERORDENTLICHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Sonnabend, den 18. April 1981, 20.00 Uhr Sonntag, den 19. April 1981, 20.00 Uhr oresoner 4 ohiharmonie Dirigent: Roberto Benzi, Frankreich Solist: Stephan Spiewok, Leipzig/Dresden, Tenor Chor: Männerchor des Philharmonischen Chores Dresden Einstudierung Matthias Geissler Franz Liszt 1811-1886 Eine Faust-Sinfonie nach Goethe in drei Charakterbildern für großes Orchester, Tenorsolo und Männerchor I. Faust (Lento assai — Allegro impetuoso) II. Gretchen (Andante soave) III. Mephistopheles (Allegro vivace, ironicc^ Schlußchor (Andante mistico) Benzis, der sich trotz seines jugendlichen Alters als ein hochbegabter, echter Musiker ausgewiesen hatte. In den Jahren 1952 bis 1956 widmete er sich weite- ^W3ERTO BENZI, Sohn italienischer Eltern, wurde _^7 in Marseille (Frankreich) geboren. Er ver brachte die ersten Jahre seiner Kindheit in Italien. Vom vierten Lebensjahre ab erhielt er Musikunter richt (in Gesang und Klavier) beim Vater. Als die Familie nach Frankreich übersiedelte, verstärkte sich sein Wunsch, das Dirigieren zu erlernen, und er wurde mehrere Jahre von Andre Cluytens und Fer nand Lamy unterwiesen. Sein Dirigenten-Debüt gab er im Juli 1948, sein erstes Konzert in Paris — beim Orchester Colonne — leitete er im November des gleichen Jahres, also im Alter von elf Jahren. Die damit beginnende „Wunderkind"-Karriere, die ihn auf Konzerttourneen durch die ganze Welt führte, fand ihre Höhepunkte in zwei Musikfilmen, deren Hauptdarsteller er war: „Vorspiel zum Ruhm" ( = „Roberto"; 1949) und „Der Ruf des Schicksals" ( = „Konzert in Venedig"; 1952). Beide Filme stei gerten in erheblichem Maße die Popularität Roberto ren Musik- sowie Universitätsstudien. 1954 war er erstmalig als Operndirigent tätig. 1959 60 leitete er die erste Inszenierung der Oper „Carmen" an der Pariser Grand Opera (das Werk war zuvor nur an der Opera Comique gegeben worden), eine Auf führung, mit der eine erfolgreiche Gastspieltournee nach Japan unternommen wurde. Der junge Künstler wurde bald von den berühmtesten Orchestern und Musikfestivals eingeladen und errang als weltweit gefragter Gastdirigent größte Erfolge. 1973 wurde er Chefdirigent des Orchestre Symphonique de Bor deaux-Aquitaine. Seit 1960 produzierte er zahlreiche Schallplattenaufnahmen. Bei der Dresdner Philhar monie war er erstmalig im Februar 1968 und im Januar 1970 stürmisch gefeierter Gast. ZUR EINFÜHRUNG Als am 5. September 1857 in Weimar feierlich das Goethe-Schiller-Denkmal enthüllt wurde, erlebte ein sinfonisches Werk seine Urauffüh rung, dessen inhaltliche Konzeption eng mit der klassischen Weimarer Literatur verknüpft ist, aber in seinen Bezügen auch weit darüber hin ausreicht. Fra nz Liszt schuf seine „Faust- Sinfonie“, sein bedeutendstes Orchester werk, 1854 während seiner Weimarer Zeit (1848 bis 1861) vor allem in Auseinandersetzung mit der Faust-Problematik. Zugleich wandte sich der Komponist aber auch dem spätestens seit Beet hovens „Neunter" anstehenden Problem de: traditionellen Sinfonie-Form zu. Mit der „Faust- Sinfonie" führte er die von Hector Berlioz ge gebenen Anregungen fort, erprobte und bestä tigte das künstlerische Gestaltungsprinzip der sinfonischen Dichtung, deren musikalisch-dra maturgischer Verlauf durch ein bestimmtes poe tisches Programm angeregt wird. Auch der For menaufbau der „Faust-Sinfonie" resultiert aus dem außermusikalischen Gegenstand, dem Programm, und wird letztlich von ihm determi niert. Liszt gliederte seine „Faust-Sinfonie" in drei Sätze, die von ihm Charakterbilder genannt wurden, womit er allerdings einen direkten Be zug auf die szenische Handlung der Goethe- schen Dichtung von vornherein ausschloß. Der erste Satz gehört der Hauptfigur des Werkes, Faust. Ähnlich wie auch Wagner in seiner „Faust-Ouvertüre" faßte Liszt den Widerspruch zwischen Streben nach Sinnerfüllung und Errei chen, den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit als das tragische Grundproblem der Faust-Gestalt auf und wendete sich damit dem Lebensproblem aller bewußt und sinn- strebig lebenden Menschen zu. Die im Laufe dieses Satzes aufgestellten vier Hauptthemen verweisen in ihrer Charakteristik deutlich auf die hervortretenden Züge der Faust- Natur. Aus dem Hauptmotiv der grüblerisch langsamen Einleitung tönen quälende Zweifel, schmerzvolle Sehnsucht nach Höherem und hoffnungslose innere Unerfülltheit. Aber bereits das sich anschließende, von den Violinen vor getragene zweiteThema repräsentiert lebenswil ligere Elemente der Faust-Gestalt. In sich har monisch indifferent und schwebend führt es bis zur ungestümen Entladung Faustscher Wesens kräfte und endet dann doch wieder mit einem trostlos klagenden Holzbläserthema. Wie eine freundliche Vision erscheint nun als drittes The ma eine sanfte und nachdenkliche Melodie, die aus dem ersten Thema entwickelt wurde. Dieser lyrische E-Dur-Bläsersatz greift das allgemeine Motiv des Sehnens wieder auf und spezialisiert es zu dem der Liebessehnsucht. Es bildet eines der wichtigsten Motive des Werkes und ist auch im zweiten und dritten Teil der Sinfonie wieder zu finden. Das vierte, ein Trompetenthema, ver wandelt dieses Sehnen nach Liebe in Leiden schaft fürs Leben. Fausts Energie, das Bewußt, sein seiner Größe, scheint wieder zu erwache, und findet in diesem heroischen Thema Aus druck. Nach der Durchführung aller Themen und einer kurzen Reprise klingt der Satz mit einer sehnsuchtsvollen Klage aus. Im Gegensatz zu dem die innere Zerrissenheit Fausts darstellenden ersten Satz ist der zweite Teil der Sinfonie, der „Gretchen-Satz", in sich wesentlich ausgeglichener und freundlicher. Nach einer Holzbläser-Einleitung erklingt in der Oboe ein anmutiges und liebliches, den Cha rakter Gretchens skizzierendes Hauptthema. Das zweite, sehr poetische Thema erzählt vom heim lichen Liebesglück und gehört zu Liszts gelun gensten Melodien. Zu diesem Liebesthema tre ten die Klagen Fausts, die Motive seines Rin gens und Hoffens aus dem ersten Satz. Beide Themen werden miteinander verknüpft und ge stalten sich zu einer wundervollen Liebesszene. Liszt komponierte Gretchens Charakterbild nicht bis zur Kerkerszene, sondern läßt es in einer friedlichen und idyllischen Stimmung verklingen. Der dritte Satz führt Mephistopheles ein. Seine Charakterisierung erfolgt nicht durch eigenes thematisches Material. Für Mephistos Darstel lung als zweite Seele Fausts greift Liszt da Faust-Themen des ersten Satzes wieder auf, ver ändert, karikiert und zerstört sie letztlich. Diese zweite Durchführung der Faust-Motive ironisiert somit die wesentlichen Eigenschaften Fausts und stellt sie in Frage. Einzig die Gretchen-Themen bleiben unangetastet und verschont. Mit dem bestehenden Mißverhältnis zwischen Faust und Mephisto aber gab sich Liszt nicht zufrieden. Er wollte sein Werk nicht mit dem Charakterbild des Mephistopheles schließen und ergänzte 1857 den dritten Satz noch durch einen Schlußteil für Männerchor und Tenorsolo über Goethes „Chorus mysticus" aus „Faust II".