Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG Prof. D r. sc. Siegfried Köhler, pro minenter Komponist und Musikwissenschaftler, Nationalpreisträger, Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1968—1980 Rektor der Hochschule für Musik „Carl Maria von We ber“ Dresden und seit 1969 daselbst Professor für Komposition, schuf im Jahre 1980 im Auf trage der Dresdner Philharmonie ein neues Werk, das heute zur Uraufführung gelangt und den Titel trägt: Festliche Inven tionen — Dresdner Renaissance musik für dreichöriges Sinfo nieorchester op. 7 0. Wie schon in ei nem vorausgegangenen Werk, „Kommentare zu drei venezianischen Madrigalen des Hein rich Schütz" für Streichorchester, kommentiert bzw. konfrontiert der Komponist darin ab schnittsweise Musik der Spätrenaissance mit neuer Musik unseres Jahrhunderts. Gerade aus dieser bewußt herbeigeführten Spannung ent steht ein wesentlicher Teil der Wirkung des Stückes — eine Konfrontation, die letztlich eine Synthese aus alter und neuer Musik erstrebt. Welche prinzipiellen ästhetischen Überlegun gen den Komponisten bei dieser Arbeit be wegten, sei in nachfolgendem Originalbeitrag Siegfried Köhlers für unser Programmheft dar gelegt: „Seit vielen Jahren beschäftigt mich das Verhältnis, die Wechselwirkung von kul turellem Erbe und künstlerischem Gegenwarts schaffen. Die Eroberung neuer Ausdrucksbe reiche in der zeitgenössischen Kunst hat nicht zu einer Verdrängung der überlieferten künst lerischen Strukturen, Themen, Inhalte und Ge staltungen geführt. Im Gegenteil: Wer die Gegenwart verstehen und die Zukunft bewäl tigen will, braucht die Erfahrungen der Ver gangenheit und das ständige Neu-Erleben ih rer kulturellen und künstlerischen Werte. Die Lebenskraft alter Kunst hat sich beson ders nachhaltig auf musikalischem Gebiete er wiesen. Seit Jahren ist in wachsendem Maße die Einbeziehung anscheinend überholter Formen und Gestaltungen in den komposito rischen Zusammenhang neuer Musik zu beob achten. Dieser faszinierende Vorgang, der von den Komponisten sicher mit unterschiedlichen Ergebnissen realisiert wird, ist in letzter Zeit mitunter als eine Rückwendung, als Verzicht auf progressive künstlerische Wirksamkeit miß verstanden worden. Diese recht oberflächliche Auffassung trifft jedoch nicht den Kern der sich gegenwärtig zwingend vollziehenden Wandlung und zeugt auch nicht von tieferem Durchdenken künstlerischer Wert- und Wir- kungsmöglichkeiten. Die Aufgabe des heute tätigen Komponisten besteht nicht darin, einen Beitrag zur Ablö sung oder gar Überwindung der Meisterwerke der Vergangenheit zu leisten. Ihm muß es viel mehr darum gehen, sich mit seinem Werk einzufügen in das Gesamtbild einer entwickel ten Musikkultur und zu versuchen, aus seiner umfassenderen historischen Sicht den bereits in den klassischen Werken vorhandenen As pekten künstlerischer Wirklichkeitsbewältigung neue, ergänzende von möglichst hoher oder gar gleicher Qualität hinzuzufügen. Dies ist nicht möglich ohne eine grundlegende Auseinandersetzung mit den überlieferten Werken, einem Ausloten ihrer Gestaltungs und Empfindungstiefe, einem Sichtbarmachen ihrer auch heute ungebrochenen Ausstrah lungskraft. Dies trifft besonders auf Werke der Zeit vor Bach und Händel zu, deren auffüh rungspraktische Gegebenheiten heute nur noch mit Schwierigkeiten zu rekonstruieren sind. Der Weg der stilgetreuen Kopie derartiger hi storischer Aufführungen, wie ihn die Musikwis senschaft gewiesen hat, hilft dabei, Verständ nis für frühere Musizierformen zu entwickeln. Ein ernsthaftes Problem ergibt sich allerdings aus der Tatsache, daß die Wirkungen, die der art stilechte Aufführungen heute auslösen, sich sehr von den Wirkungen unterscheiden, die vor Jahrhunderten bei der damaligen Hö rerschaft erzielt wurden. Der heutige Hörer, durch die ständige Beeinflussung durch musi kalische Massenmedien, durch Rundfunk, Fern sehen und Schallplatte geformt, aber auch durch die akustischen Härten moderner Rock- Musik beeinflußt, wird puristischen Aufführun gen alter Musik gefühlsmäßig ganz ander^^h- gegnen als der Hörer vor zwei oder drei JSF- hunderten. Was dem Hörer früher eine klang gewaltige Offenbarung war, was ihn zutiefst bewegte, niederbeugte oder erhob, mag dem Musikfreund heute allenfalls als anmutige Spielmusik erscheinen. Hier nun eröffnet sich ein anderer Weg, den ich versucht habe, in meinen Sinfonischen In ventionen zu beschreiten: Es geht mir nicht um eine historisierende, also puristische, sondern um die künstlerisch frei gestaltende Auseinan dersetzung mit Meisterwerken der Vergangen heit. Selbstverständlich besitzt auch in diesem Rahmen kein Autor das Recht, auch nur eine Note der originalen Gestalt aus ihrem Sinn zusammenhang zu reißen, aber: Die Einbet tung der alten Musik in neue Klangbereiche, ihre Transformation in andere musikalische Zusammenhänge, birgt die Möglichkeit, dem heutigen Hörer das Alte in einer Weise neu erstehen zu lassen, die seine Empfindungen denen der Menschen früherer Zeiten anzunä hern vermag. Wenn ich mich in letzter Zeit besonders der Renaissance-Musik zugewandt habe, dann ge schah es, weil hier ein noch weitgehend unbe kanntes Reservoir an erregender, schöner, kraftvoller und zarter, in sich vollendeter Mu sik vorliegt, das noch nicht seinen Einzug in Misere Konzertsäle gehalten hat. besonders in Dresden fand ich wertvolle An satzpunkte und Quellen. Als die musikalische Spätrenaissance in Deutschland ihren Höhe punkt erreichte, waren hier nacheinander drei bedeutende Komponisten am Dresdner Hof tätig, der Kammerorganist Hans Leo Haßler, der 1612 in Dresden starb, der Komponist Mi chael Praetorius, der von 1613—1616 für das Kapellmeisteramt verantworlich war, und schließlich Heinrich Schütz, der 1617, als Zwei unddreißigjähriger, zum Hofkapellmeister be rufen wurde. Eine bemerkenswerte Konzentra tion von überragenden kompositorischen Kräften an einem Ort, dessen heute weltweit geachtete Musikkultur sich damals überhaupt erst zu entfalten begann. Die Renaissance selbst, die in Literatur, bil dender Kunst und Architektur um 1600 längst ihren Höhepunkt überschritten hatte, erreichte in der Musik mit der Wiedergeburt (Renai ssance) der antiken Tragödie als Oper in Ita lien ihren letzten glanzvollen Höhepunkt, der bis nach Kursachsen ausstrahlte, denn nicht nur Haßler verdankte seine Ausbildung italie nischen Vorbildern, sondern auch Heinrich Bchütz war von 1609—1613 bei Giovanni Ga briel! in Venedig in die künstlerische Lehre gegangen. Diese Brücke zwischen Venedig und Dresden findet im ersten Satz der Inventionen ihre Würdigung. Giovanni Gabrielis epochema chendes Werk, die Sonata pian e forte, eine der frühen, in sich bereits vollendet ausgewo genen Instrumentalmusiken des 16. Jahrhun derts, wird in diesen Satz im vollen Umfang einbezogen. Dieses Prinzip gilt auch für die anderen Sätze, deren historische Vorlagen (Haßler, Schütz, Praetorius) ungekürzt und in ihrer in sich un veränderten Gestalt zum Vortrag gelangen. Warum aber trägt diese Dresdner Renaissan cemusik den Titel .Sinfonische Inventionen'? Das Wort Invention wird hier nicht im Bach- schen Sinne (zwei- und dreistimmige Inven tionen für Klavier), sondern in seiner ursprüng lichen Bedeutung gebraucht. Jnventiones', Er findungen, Einfälle lagen jenen Festumzügen zugrunde, die von den sächsischen Kurfürsten vor und nach 1600 in Dresden veranstaltet wurden. Die geschmückten, sorgfältig ausge stalteten Wagen, die kostümierten Musikan ten, die künstlerisch-festliche Atmosphäre die ser Auf- und Umzüge, all diese Jnventiones' leben heute noch fort auf alten Abbildungen und in überlieferten Berichten. Die Dresdner Renaissance-Musik will ein der artiger — gleichsam symbolischer — Festum zug sein, der nun aber auf sinfonische Weise, also mit den Mitteln eines dreichörigen, nach venezianischem Vorbild musizierenden Sinfo nieorchesters seine Jnventiones' in originaler und verwandelter Gestalt vortragen läßt. Diese Musik will weder schockieren noch be lehren, sie will weder unverständlich noch un spielbar sein. Es geht darum, die Schönheiten alter Musik auf sinnvolle Weise aufzuzeigen, erkennbar und erlebbar zu machen und mit neuen Erkenntnissen und Erfahrungen zu ver binden, als Angebot zum Weiterdenken, viel leicht auch zum eigenen Musizieren, zur schöp ferischen Auseinandersetzung mit der Kunst der Vergangenheit und Gegenwart. Renaissancehafte Lebenszugewandtheit klingt in allen Sätzen der alten Meister auf, die dem Prinzip der Mehrchörigkeit entsprechend, .sin fonisch', also stimmig in der dialektischen Ver wobenheit von Übereinstimmung und Gegen sätzlichkeit, musiziert werden. Angesichts die ser Vorgabe durch große Kunstwerke der Ver gangenheit erfährt auch die Musiksprache der Gegenwart ihre Verwandlung. Individuelle Verspieltheit und Neigung zur Problemüberla stung treten zurück; derartige Strukturen hät ten nur geringe Chancen, neben der klaren Geradheit der Renaissancemusik bestehen zu können. Der bewußte Verzicht auf eine Hyper trophie der Mittel und Möglichkeiten führte einerseits zu konkreter Knappheit in der Kom mentierung (z. B. im Schütz-Satz), andererseits zu weitgespannten, zumeist meditativen Ent wicklungsbögen, die sich jedoch (wie z. B. in der Einleitung zum Haßler-Satz) nur auf die Schlichtheit einer Fünf-Ton-Reihe stützen. Für das Orchester bringt diese Arbeit die Aufgabe mit sich, gleichzeitig neue und alte Musik stil gerecht zu musizieren und der in den Sinfo-