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fang der Durchführung zuerst in den Celli auftauchendes Motiv „bildet" sich, wird als „Modell" durchgeführt und beherrscht schließlich diesen Teil. Eine wörtliche Wiederho lung der Exposition wäre unmöglich: Nach der großen Fanfare (dem Zielthema, das vorher nur zu Beginn der Durchführung in den Hörnern erklang) folgt die drastisch ver kürzte Reprise in immer lebhafterem Tempo. Ausnahmsweise harmlos gibt sich das bäurisch-derbe Scherzo, dessen Trio zumal dem bewunderten Vorbild Bruckner verpflichtet ist. Wie im ersten Satz existiert auch hier ein Liedmodell bei Mahler selbst. Es ist der schon 1880 entstandene Gesang „Hans und Grete", Mahlers frühester Ländler. Nach diesem Scherzo schreibt die Partitur eine „ziemliche Pause" vor. Wie Mahler Bruno Walter mitgeteilt hat, ist hier ein „katastrophenartiges Ereignis" vorgefallen, „das den Ausgangspunkt für die Stimmung des Trauermarsches und des Finale dar stellt". Hier im Trauermarsch wird Unvereinbares vereint, sind die Kontraste kaum ver mittelt, wechseln die Tempi ruckartig. Am Anfang und am Ende der alte Kanon „Bru der Martin, schläft du noch", zunächst zu hören von einem gedämpften Kontrabaß Solo in hoher Lage, begleitet von gedämpften Pauken in gemessenem MarschrhythmM Nach dem ersten Kanonteil gassenhauerische Episoden, welche zweifellos ihren Ur sprung haben in Mahlers böhmischer Heimat. Becken sind an der großen Trommel an gehängt, ländliche Tanzkapellen parodierend. Schließlich „sehr einfach und schlicht wie eine Volksweise": die „Lindenbaum"-Melodie aus Mahlers viertem „Gesellenlied". Im grotesken und unheimlichen Kontext ist sie die einzige tröstliche Stelle. Aber es ist der Trost, den die Ruhe des Todes spendet. Ohne Unterbrechung folgt das Finale. Es wird oft als nicht ganz gelungen angesehen. Zu Unrecht. Schon die Dissonanz, die, „jäh, wie der Blitz aus der dunklen Wolke" den Beginn markiert, ist ingeniös. Und was sich dann motivisch-thematisch abspielt, ist schlechthin aufregend — wie das Schlußkapitel eines Romans, wo die Vorgeschichte der Figuren aufgedeckt wird. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat überzeugend nachgewiesen, daß die Thematik der Einleitung zum ersten Satz über dessen Grenzen hinauswirkt und damit den Sinfoniezyklus durch „Substanzverwandtschaft" zusammen schließt. Insbesondere das Hauptthema des Finale zehrt von dem musikalischen Ma terial des Adagios und von der Durchführung des Anfangssatzes, wobei der „Formge danke des Finale", nach Dahlhaus, darin besteht, „daß die chronologisch fortschrei tende Geschichte des Themas" einen Rückgriff „auf immer ältere Schichten" des The mas darstellt und seine Vergangenheit schrittweise zutagefördert. Das zyklische Mo ment der Sinfonie zeigt sich selbst darin, daß die Gestaltung der Reprise sich in den Ecksätzen gleicht: In beiden Fällen trennt Mahler am Beginn der Reprise das Ziel thema (in der Haupttonart D-Dur) vom Hauptthema. Ein bemerkenswerter, äußerst modern wirkender Einfall. Mahler schrieb einmal, daßauch die Beethovenschen Sinfonien „ihr inneres PrograrrJH besitzen. Das „innere Programm" der Ersten Sinfonie von Mahler kann nicht in Jean Paulschen Begriffen und Ausdrücken wiedergegeben werden, obwohl fast alle oben ge nannten Titel, sogar „Blumine", bei Jean Paul vorkommen. Aber dessen Seelenland schaft mit ihrem Nebeneinander von Humoristischem und Gefühlvollem, von Ironie und „bitterster Verzweiflung an den selbstgesteckten Idealen" (Jost Hermand) ist genau die der Ersten Sinfonie. Dem Werk ging die unglückliche Liebesbeziehung Mahlers zu der Sängerin Johanne Richter voraus. Wenn der Komponist behauptet, daß „das äußere Erlebnis" dieser Liebesaffäre „zum Anlaß und nicht zum Inhalt des Werkes" wurde, so ist ganz klar, daß die Erschütterung in das „innere Programm" der Sinfonie einging. Die Spaltung des Jean Paulschen Ichs in die „Titan"-Figuren Albano, Schoppe und Roquairol wiederholt sich bei dem Jean-Paul-Verehrer Mahler. Dr. Eberhardt Klemm