ROBERT SCHUMANN: SINFONIE NR. 4 d-MOLL OP. 120 Es ist schon lange her, daß man Schumann einen „unglücklichen Möchtegern“ nannte, aber noch nicht so lange, daß man ihn für einen matten Sinfoniker erklärte. Gewiß mußte enttäuscht werden, wer so naiv war zu glauben, daß sich das revolutionäre jugendliche Feuer, der Sturm und Drang der unvergleichlichen Klaviermusik in den vier Sinfonien fortsetzt. Und wer diese Werke mit der klassisch genormten Elle mißt, wird dort nur „eine Art Ölfleck" feststellen, wo zumindest bei Beethoven (schon gar nicht bei Haydn) ein dem Hauptthema dialektisch entgegengesetztes Seitenthema steht. Mit anderen Worten: Man muß Schumanns Sinfonik aus ihr selbst beurteilen; Vergleiche mit der Vergangenheit geraten leicht schief. Zumal die Sinfonie Nr. 4 d-Moll op. 120 weist in ihrem Gehalt und in ihrer Form am weitesten nach vorn. Das bedeutet, daß sie Eigenschaften besitzt, die die Klassiker noch nicht kannten. Das bedeutet aber auch, daß der Fortgeschrittenheit dieses Wer kes Dinge geopfert werden mußten, die zu den großen Errungenschaften der klassi schen Meister gehörten. Das Werk sollte ursprünglich „Sinfonische Phantasie" heißen — „Phantasie" der wahre Titel aller Werke von Schumann! Sinfonie nannte er es nur der Konvention gehorchend. Immerhin stand auf dem Titelblatt des Erstdrucks, daß hier fünf Sätze — Introduktion, Allegro, Romanze, Scherzo und Finale — zu einem pausenlosen Ganzen verbunden werden. Es ist klar, daß ein solches — heute ungemein modern anmutendes — Werk, das so vielerlei Charaktere — Dramatisches, Lyrisches, Balladeskes, Scherzo- ses — zusammenzwingen will, in einem bisher nicht dagewesenen Maße thematisch ver einheitlicht werden mußte. Im Grunde gehen die hauptsächlichsten Themen der Sin fonie allein aus der großartigen Introduktion (Ziemlich langsam) hervor. Vor allem das vielleicht etwas zu stark figurativ verwendete (und daher leicht ins „Schwitzen" gera tende) Allegro-Hauptthema in Sechzehnteln kommt allenthalben vor und ist auch we sentlicher Bestandteil des Hauptthemas des Finale. Der Formgedanke des Werkes macht es auch möglich, daß der erste, sehr konzise Allegroteil — also die sogenannte Exposition — mit einem einzigen Thema auskommt, und das „Gesangsthema" erst in der Durchführung aufgestellt wird. Die Durchführung selbst ist so ausgedehnt, daß hier auch neue, nämlich präzise, rhythmisch punktierte Motive entstehen, die sowohl im Scherzo als auch im Finale weiterentwickelt werden. Die klassische Tradition ist jedoch insofern gewahrt, als durchaus Reprisen existieren. Die beiden schnellen Rahmensätze enthalten Reprisen, die aber jeweils die Hauptthemen zugunsten der zweiten Themen vernachlässigen. Es würde zu weit führen zu erklären, warum das alles so ist. Eine Folge davon ist jedenfalls, daß eine Reprise hier nicht mehr ein „Ereignis" wie etwa bei Beet hoven ist. Schumann hat das deutlich am Schluß der Sinfonie verspürt und ihr wohl deshalb eine Coda mit einem neuen Thema und einer (genialen) Stretta mit fugencu? tig übereinandergetürmten Stimmen angehängt. Die Vierte Sinfonie, heute das populärste Orchesterwerk Schumanns neben dem Klavierkonzert, entstand wie die viel weniger ernste Erste Sinfonie (in B-Dur) 1841 und wurde als Sinfonie Nr. 2 am 6. Dezember des gleichen Jahres in einem Gewandhaus konzert unter Ferdinand Davids Leitung uraufgeführt. Sie hatte nicht nur keinen Erfolg (im Gegensatz zur Ersten Sinfonie), Schumann selbst hielt ihre Instrumentierung für unzulänglich (obwohl die Verwendung einer Gitarre in der Romanze für moderne Oh ren sehr reizvoll ist). Das Werk wurde 1851 umgearbeitet und erschien zwei Jahre spä ter als Sinfonie Nr. 4 im Druck. Die ersten Aufführungen erfolgten 1853: am 3. März und am 15. Mai auf dem 31. Niederrheinischen Musikfest, beide Male in Düsseldorf unter Schumanns Leitung. Heutzutage wird das Werk ausschließlich in der Neufassung gespielt, wenn man von gelegentlichen Aufführungen in der Originalfassung absieht, welche freilich mehr aus musikgeschichtlichem Interesse veranstaltet werden. 3. ANRECHTSKONZERT Dienstag, den 14. Oktober 1980, 19.30 Uhr, Kongreßhalle Ausführende: DRESDNER PHILHARMONIE Dirigent: HERBERT KEGEL Programm: ROBERT SCHUMANN (1810-1856) Sinfonie Nr. 4 d-Moll op. 120 I. Ziemlich langsam — Lebhaft II. Romanze • Ziemlich langsam III. Scherzo • Lebhaft IV. Langsam — Lebhaft PAUSE GUSTAV MAHLER (1860-1911) Sinfonie Nr. 1 D-Dur I. Langsam, schleppend — Immer sehr gemächlich II. Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell III. Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen IV. Stürmisch bewegt ZEUGNIS: MAHLER ÜBER SCHUMANN Es war die Rede davon, wie unbegreiflich es sei, daß Richard Wagner so wundervolle Werke wie die Schumannschen Symphonien verkennen und verdammen konnte. „Und das durfte er sich noch für seine Person erlauben," sagte Mahler, „da er vielleicht durch eine schlechte, unverständliche Aufführung irregeleitet war. Aber unter dem gan zen Heere der Nachbeter, die sich bis heute nicht entblöden, Schumann von oben herab zu behandeln und zu belächeln, hat Wagners Irrtum und heftige Parteilichkeit bedauerlichen Schaden angerichtet." (Natalie Bauer-Lechner, Erinnerungenen an Gustav Mahler, 1923)