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zes, der unter dem Eindruck des Selbstmord versuches des verehrten Robert Schumann ge schrieben sein soll, zunächst befremdet haben. Und doch müssen wir in diesem Werk, bei des sen Entstehung wohl persönliches Erleben des jungen Komponisten eine wichtige Rolle spiel te, eines der großartigsten Beispiele seiner Gattung erblicken, das uns durch seine Ein heitlichkeit und Intensität, durch seine düstere Größe und seinen starken Gefühlsreichtum aufs tiefste zu fesseln vermag. Der erste Satz (Maestoso) wird mit dem groß artigen Hauptthema des Orchesters eröffnet. Nach einem Zwischenspiel und einer kontra- Lunktischen Steigerung setzt das Klavier piano *spressivo mit klagenden Terzen- und Sexten gängen ein. Sparsam begleitet das Orchester. Die ernste, schmerzliche Stimmung konzen triert sich. Dann erklingt — im Klavier allein — das edle zweite Thema, das zu Brahms' schön sten Einfällen gehört. Das Orchester greift die Melodie auf, das Klavier umspielt sie figura tiv. Die Durchführung bemächtigt sich dieses Materials und mündet in einer Verarbeitung des Hauptthemas. Düster klingt die Reprise aus. Wie faszinierend die melodischen Entfal tungen, der großflächige Aufbau, der herbe Moliklang des Satzes wirken, läßt sich kaum mit Worten sagen. Der Einsatz des Solokla viers erfolgt sinfonisch-konzertant und stellt an den Solisten höchste physische Anforde rungen. Andere Gefühlsbereiche eröffnen sich schon mit dem zweiten Satz (Adagio), den Brahms ursprünglich — wohl im Gedenken an Schu mann — mit „Benedictus, qui venit in nomine Domini" überschrieben hat. Ein innig-gesang- volles Geigenthema steht im Vordergrund des Satzes. Einen weiteren edlen Gedanken bringt das Klavier. Die Anlage des Adagios ist drei- keilig. Der mittlere Teil wird von elegischen und schmerzlich-trotzigen Stimmungen be herrscht. Die variierte Wiederholung des er sten Teiles — mit einer Kadenz des Klavieres — schließt im Pianissimo. Das Rondo-Finale (Allegro non troppo) steht inhaltlich im Gegensatz zu den vorangegan genen Sätzen. Rhythmisch und melodisch be gegnet fast ungarischer Schwung. Kraftvoll, stürmisch setzt das rhythmisch pointierte Hauptthema ein. Welch einen Kontrast schafft dazu das wunderschöne zweite Thema in F- Dur, das besonders wirkungsvoll in einer fu- gierten Episode mit Klavier und Horn zum Ausdruck kommt. Die Gestaltung des Rondos meidet insgesamt belastende Problematik. Nach einer konzertanten Kadenz verklingt das Werk mit hellem Dur-Klang. Wie viele Musiker haben nicht schon, am Kla vier improvisierend, Menschen „porträtiert"! Wie viele Themen der klassisch-romantischen Musik sind nicht, wenn auch verschwiegene, „Abbilder" menschlicher Charaktere! Zu den we nigen Komponisten, die in einem großen Werk gleich eine ganze Reihe solcher „Abbilder" geschaffen haben, gehört Edward Elgar, der erste englische Komponist von Rang nach Henry Purcell, Dieses Werk sind die Varia tionen über ein eigenes Thema für Orchester op. 36 (1899). Elgar, ein Autodidakt, war zu dieser Zeit 42 Jahre alt und bis dahin kaum bekannt. Mit diesem Opus wurde er jedoch mit einem Schlag berühmt. Es zählt mit der „Cockaigne"-Ouvertüre, zwei Sinfonien und der sinfonischen Dichtung „Fal staff" zu seinen bedeutendsten Orchesterwer ken. Es ist außerdem sein persönlichstes: El gar zeigt sich hier von einer warmherzigen, noblen und witzigen Seite; vom Finale abge sehen, fehlt jeglicher Pomp und jegliche Rhe torik — Eigenschaften, die in manchen anderen Kompositionen Elgars vorherrschen. Das Werk ist heute unter dem Namen „Enig- ma-Variationen" bekannt: Das dreiteilige Va riationsthema trägt in der Partitur die Über schrift „Enigma" (Rätsel). Das Thema soll ein Rätsel aufgeben: Hinter ihm soll sich ein ganz anderes Thema verbergen. Für das zeitgenös sische Publikum, das mit Elgars Biographie nicht vertraut war, waren auch die einzelnen Variationen voller Rätsel: Sie sind nämlich entweder mit Initialen oder mit Phantasiena men überschrieben. Die XIII. Variation, trägt überdies die Bezeichnung „Romanza und statt eines Namens drei Sternchen! Das Werk besteht aus Thema und dreizehn Variationen; die XIV. dient als großangeleg tes „Finale" (ohne Fuge!). In den Variationen hat Elgar Porträts seiner Freunde gezeichnet; das Thema wird also nacheinander durch die Persönlichkeit jeweils eines anderen Men schen gesehen. Die „Enigma-Variationen ge hören zum Typ der deskriptiven freien Varia tion; im Gegensatz aber zu ähnlichen Werken von Frederick Delius, Vincent d Indy oder Ri chard Strauss sind Elgars Variationen nach klassischem Vorbild durch Zäsuren voneinan der getrennt. . x D Die Variationen sind freilich nicht alle „Por träts“. Manche halten nur eine Eigenschaft oder eine Angewohnheit eines F re '/ n ^, s . So wird in der VIII. Variation (»y • , • j , as Lachen von Winifred Norbury musikalisch wie dergegeben. Ein anderes Beispiel: Hew Da vid Steuart-Powell, mit dem Elgar oft musi zierte, fuhr jedesmal vor Spielbeginn auf den Klaviertasten auf und ab. Solche Läufe sind in der II. Variation (H. D. S.-P-") nachgeahmt. Es sind stark chromatische Läufe, obwohl (oder weil) Steuart-Powell Chromatik verab scheute. Es gibt auch Variationen, die auf ei ne Sache anspielen, die nur zwei Menschen kennen. Zum Beispiel die Variation Nr. IX. Ihre Überschrift offenbart zugleich Elgars Sinn für Wortspiele. Mit „Nimrod" ist selbstver ständlich nicht der biblische Jäger gemeint, sondern Elgars Verleger-Freund (bei Novello) A. J. Jaeger. Hätte Elgar dessen Temperament wiedergeben wollen, wäre die Variation ganz anders ausgefallen, und man hätte sie dann vielleicht als ein Jagdstück deuten können. Sie ist aber ein äußerst ausdrucksvolles Adagio (es werden vor allem die Sept-Intervalle des Themas ausgenutzt), das zu Beginn gleichsam die „Idee des langsamen Satzes" bei Beetho ven beschwört. Genau darum war es den bei den Freunden in einem Gespräch einmal ge gangen. Und die Variation Nr. XI mit den Initialen „G. R. S." gibt kein Porträt des Or ¬ ganisten George Robertson Sinclair. Vielmehr führt hier Elgar aus, worum sein Freund ihn einmal gebeten hatte: in Musik zu setzen, wie sein Hund — eine berühmt gewordene Bull dogge — ins Wasser springt, herumpaddelt und glücklich eine Landestelle findet. Eine der originellsten Variationen ist die zau berhaft instrumentierte X., ein „Intermezzo". Mit dem Namen „Dorabella" ist nicht etwa die eine der zwei Offiziersbräute aus „Cosi fan tutte" gemeint, sondern Dora Penny, die spätere Mrs. Richard Powell. In diesem Musik stück wird, wie Elgar meinte, eine „Stimmung zum Ausdruck gebracht". In der letzten Varia tion — dem Finale — zeichnet sich Elgar selMB Da seine Frau und der bereits erwähnte VWl leger den größten Einfluß auf sein Leben und seine Kunst besaßen, tauchen Variation Nr. I („C. A. E.") — ein Porträt von Caroline Alice Elgar — und die „Nimrod"-Variation in der Mitte des Finales thematisch nochmals auf. In Elgars etwas lärmendem „Selbstporträt" wird das Bild eines konservativen Komponisten bestätigt, der zwar noch ganz im Einklang mit der edwardischen Gesellschaft lebt (später zog er sich enttäuscht von ihr zurück), es aber meisterhaft versteht, eben diese Gesellschaft — auch seine Freunde und seine Umwelt — musikalisch zu charakterisieren. VORANKÜNDIGUNGEN: Donnerstag, den 11. September 1980, 20.00 Uhr (AK/J) Freitag, den 12. September 1980,20.00 Uhr (Freiverkauf) Festsaal des Kulturpalastes Dresden 1. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Kazuo Yamada, Japan Solist: Andre Gertler, Belgien, Violine Werke von Mozart, Bartök und Brahms Freitag, den 26. September 1980, 20.00 Uhr (A 1) Sonnabend, den 27. September 1980, 20.00 Uhr (A 2) Festsaal des Kulturpaiastes Dresden Einführungsvorträge jeweils 19.00 Uhr Dr. habil. Dieter Hartwig 2. PHILHARMONISCHES KONZERT Dirigent: Rolf Reuter, Weimar Solist: Pierre-Laurent Aimard, Frankreich, Klavier Werke von Thiele, Borodin, Beethoven und Mendels sohn Bartholdy Programmblätter der Dresdner Philharmonie Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Die Einführungen in O. Treibmanns Capriccio 71 und E. Elgars Enigma-Variationen schrieb Dr. Eberhardt Klemm, Leipzig Spielzeit 1980/81 — Chefdirigent: Prof. Herbert Kegel Druck: GGV, Prod.-Stätte Pirna 111-25-12 ItG 55-80 EVP: 0,25 M 1. PHILHARMONISCHES KONZERT 1980/81