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ZUR EINFÜHRUNG Der finnische Komponist Jean Sibelius hatte schon in früheren Jahren Einladungen für Gastspielreisen nach Amerika erhalten, diese jedoch im Hinblick auf die Beanspruchung durch seine kompositorische Arbeit immer ab gelehnt. Im Herbst 1913 nahm er endlich eine neuerliche ehrenvolle Einladung durch den Veranstalter des Norfolk Festivals an, schrieb eigens für dieses Gastspiel ein neues Orche sterstück „Die Okeaniden", das im Frühjahr 1914 vollendet und am 4. Juni 1914 in Norfolk unter Leitung des Komponisten überaus erfolg reich uraufgeführt wurde. Die Yale-Universität verlieh ihm bei dieser Gelegenheit die Würde eines Ehrendoktors, die er im gleichen Jahr auch von der Universität Helsinki entgegen nehmen durfte. Den Titel seiner Tondichtung „Die Okea niden op. 73 wollte Sibelius in Verbin dung mit der homerischen Mythologie, nicht im Zusammenhang mit Naturwesen aus dem finnischen Nationalepos „Kalevala" verstan den wissen. Der finnische Name des Werkes „Aallottaret" (Töchter der Wogen) ist nur eine Übersetzung. Bei Homer ist Okeanos der Gott des Meeres; er hat mit seiner Gattin Tethys 3000 Söhne und 4000 Töchter gezeugt. Die letz teren heißen Okeaniden. Sie versorgen die Erde mit dem lebenerhaltenden Wasser. Hatte Claude Debussy in seinen Orchesterskizzen „La Mer" (1903/05) das Schwergewicht der musikalischen Gestaltung auf eine naturali stisch-impressionistische tonmalerische Zeich nung gelegt, so schildert Sibelius in seinem Werk eine von lebendigen Naturgeistern er füllte, phantastische Meeresszenerie. Das fein nuancierte, mit impressionistischen Zügen aus gestattete Klangbild bietet sich als freies, aber fest geformtes Rondo mit logischer Entwicklung der musikalischen Ideen dar. Das Meer und seine dahinrollenden Wogen erstehen in der Malerei des Streichorchesters, von Harfen und Pauken unterstützt, während die mutwilligen, einschmeichelnden Motive der Holzbläser das Spiel der Okeaniden in den Wogen versinn bildlichen. Neben Gustav Mahlers gewaltigen sin fonischen Schöpfungen steht, ebenbürtig an künstlerischem Wert, sein Liedschaffen, das eine zentrale Stellung in seinem kompositori schen Werk einnimmt und einen sehr wesentli chen, charakteristischen Teil dieses Werkes bil det. Schon als Kind von den Liedern und Weisen seiner mährischen Heimat tief beeindruckt, ge lang es Mahler, der auch später eine Vorliebe für das echte, unverfälschte Volkslied, eine starke innere Beziehung zur Volksmusik besaß, in einem großen Teil seiner eigenen Liedkom positionen den Ton echter, unmittelbar berüh render Volkstümlichkeit zu erreichen. Ein Glücksfall war es dabei für ihn, daß er als 28 jähriger, nachdem er bereits das 1. Heft seiner „Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit" veröffentlicht und die aus den Jahren 1883'84 stammenden „Lieder eines fahrenden Gesel len" (nach eigenen Texten) geschrieben hatte, auf die 1806/08 von Achim von Arnim und Cle mens Brentano unter dem Namen „Des Kna ben Wunderhorn" herausgegebene berühm® Sammlung alter deutscher Volkslieder gestoßen war, die ihn ungemein anzog, da diese Lied texte ganz seinen Vorstellungen und Wünschen entsprachen. Bereits die beiden nächsten Hef te seiner „Lieder und Gesänge aus der Ju gendzeit" brachten nur noch Vertonungen aus dieser Sammlung; ganz besondere Verbrei tung aber fanden die 1888 '89 komponierten 12 Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn" für Ge sang und Orchester. Wie schon die „Lieder eines fahrenden Gesellen" auf die Gestaltung der 1. Sinfonie eingewirkt hatten, durchdran gen auch die „Wunderhorn"-Lieder, sogar in ganz besonderer Weise, Mahlers Sinfonik, wur den sie vor allem in Sätzen seiner Sinfonien Nr. 2—4, (den sogenannten „Wunderhorn"- Sinfonien) verarbeitet. Die zweite wesentliche literarische Quelle von Mahlers Liedschaffen sind die Gedichte des heute ziemlich vergessenen spätromantischen Dichters Friedrich Rückert (1788—1866), denen er sich nach der Vollendung der 4. Sinfonie zu wandte. Außer dem ergreifenden Zyklus der „Kindertotenlieder" vertonte Mahler in den Jahren 1901/04 fünf Rückert-Gedichte, die 1905 in den „Sieben Liedern aus letzter Zeit" ve® öffentlicht wurden. Diese Rückert-Lieder geho^ ren zum Subtilsten, was Mahler geschaffen hat. Es sind Lieder der Reife, der Stille und Ein samkeit, in denen sich das Volksliedhafte der „Wunderhorn"-Lieder als Wesenszug erhalten hat. „Die Orchestergesänge enthalten viel leicht die sublimsten Leistungen seines orche stralen Könnens und sind Muster einer ideal abgetönten Klangbeziehung zwischen Sing stimme und Orchester", schrieb der große Diri gent Bruno Walter in seinem Mahler-Buch. Das Lied „Ich bin der Welt abhanden gekom men" (aus der seinerzeit berühmten Samm- TH EO ADAM