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8. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Dienstag, den 29. April 1980, 20.00 Uhr Mittwoch, den 30. April 1980, 20.00 Uhr dresdner e oNIhsirrrnornio Dirigent: Herbert Kegel Solisten: Helga Termer, Dresden, Sopran Violetta Madjarowa, Halle/VR Bulgarien, Alt Armin Ude, Dresden, Tenor Ulrik Cold, Dänemark, Baß Chöre: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Herwig Saffert Mitglieder des Staatsopernchores Dresden Einstudierung Hans-Dieter Pflüger Bohuslav Martinü 1890-1959 Lidice — Sinfonische Dichtung Adagio — Andante moderato — Adagio Ludwig van Beethoven 1770-1827 Sinfonie Nr. 9 mit Schlußchor über Schillers Ode „An die Freude" für Orchester, Solostimmen und Chor d-Moll op. 125 Allegro ma non troppo, un poco maestoso Molto vivace Adagio molto e cantabile Finale (Presto — Prestissimo) ZUR EINFÜHRUNG Bohuslav Martinüs Oeuvre repräsen tiert im internationalen Musikleben wohl am nachhaltigsten den Begriff der tschechischen Gegenwartsmusik, ohne daß dieser — bei der stattlichen Schar bedeutender zeitgenössischer Komponisten unseres Nachbarlandes — darauf beschränkt wäre. Der vielseitige Komponist, 1890 in Policka geboren, begann seine Musiker- j^fbahn zunächst nicht mit ausschließlich schöp- ^Bscher Tätigkeit. Vielmehr saß er — nach dem Studium am Prager Konservatorium — zehn Jah re lang als Orchestergeiger in der Tschechischen Philharmonie. Daneben schulte er sich autodi daktisch in Komposition. Ein Ballett, „Ischtar", erlebte bereits seine Uraufführung am Prager Nationaltheater, ehe Martinü in Josef Suk den ersten Kompositionslehrer fand. 1923 ging er nach Paris, und hier (bis 1940 lebte er in Frank reich), unter den Augen seines Lehrers Albert Roussel, wurde Martinü seiner Berufung gewahr, besann er sich gleichzeitig auf sein tschechi sches Musikantentum, das Erbe seiner Nationa lität, das er niemals verleugnet hat. Sein Ver wurzeltsein im musikalisch-folkloristischen Hei matboden bewahrte ihn in all den Jahren in der Fremde, nicht zuletzt während seines Amerika aufenthaltes (1941 bis 1946), vor Nachahmung ihm nicht gemäßer Stile, Auffassungen, Richtun gen. Stets stand er in engstem Kontakt mit der Heimat, war sich seiner nationalen Sendung auch im Ausland bewußt und nahm lebhaften Anteil an dem traurigen Geschick seines Volkes während der Kriegsjahre. So schuf der Kompo nist unter dem Eindruck der Tragödie von Mün chen, die das Schicksal seines Vaterlandes be- elte und ihn äußerst unglücklich machte, Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, und 1943 den unser heu tiges Konzert eröffnenden Orchesterhymnus „Lidice" als Protest gegen die Ausrottung des gleichnamigen tschechischen Dorfes durch die Faschisten und in memoriam der Opfer dieser Barbarei. Nachdem Martinü jahrelang Musik professor an der Princeton University und zeit weilig auch Kompositionslehrer am Manes Col lege sowie in Tanglewood gewesen war, folgte er 1946 einer Berufung als Professor für Kom position an das Prager Konservatorium. Seitdem lebte er abwechselnd in Prag, New York, Prat- teln (Schweiz) und auf Reisen. Am 28. August 1959 verstarb er in Liedsdorf (Schweiz). Die sinfonische Dichtung „Lidice", die ne ben seinen sechs Sinfonien zu seinen bedeu tendsten Orchesterwerken gehört, schrieb Mar tinü im August 1943 auf Anregung des ameri kanischen Komponistenverbandes, der verschie dene Komponisten beauftragt hatte, mit musi kalischen Mitteln erschütternde Kriegsvor kommnisse zu gestalten. Was lag für Martinü näher, als seine Gefühle über die Tragödie von Lidice auszudrücken, jenem tschechischen Dorf, das, wie schon erwähnt, von den Nazis in einem grausamen Blutbad zerstört, worden und das nicht nur zu einem Symbol für faschistische Un terdrückung, für das Martyrium des tschechi schen Volkes unter der Hitlerherrschaft, son dern auch des Siegeswillens der fortschrittlichen Kräfte geworden war. Formal entschied sich der Komponist für einen kurzen, langsamen Satz, der keine bestimmten Themen hat, sondern des sen Wirkung auf einer originellen Anwendung der orchestralen Mittel beruht. Der erste Abschnitt der dreiteiligen Komposi tion (Adagio, Andante moderato und Tempo I) beginnt mit einem tiefen c-Moll-Akkord und ei nem gleichzeitig ertönenden cis-Moll-Akkord. Choralhaft gewinnt die Trauer des Komponisten über das Schicksal Lidices Ausdruck, über dem Bild der Zerstönung wird dennoch Entschlossen heit, Festigkeit, ein Wille zum Widerstand spür bar. Auch im bewegteren Mittelteil, der insge samt von tragischen Stimmungen beherrscht wird, gewinnen schließlich (im Es-Dur des vollen Orchesters) energischere Kräfte die Oberhand. Ein Unisono von Hörnern, Trompeten, Violinen und Bratschen eröffnet den dritten Teil des Wer kes, der auf dem Intervall der großen Septime zu einem dramatischen Wende- und zugleich Höhepunkt der Aussage führt. Die Hörner zitie ren die Anfangstakte von Beethovens 5. Sinfo nie. Trostreich, in besonnener Zuversichtlichkeit klingt die von tiefem Gefühl erfüllte, ernste, aber keineswegs niederdrückende Komposition in klarem C-Dur aus, die im heutigen Konzert beziehungsvoll der Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie vorangestellt ist: dem Protest über die Zerstörung des Menschen durch den Men schen, wie er in Martinüs Tondichtung „Lidice" Ausdruck findet, wird die humanistische Bot schaft Schillers und Beethovens entgegenge setzt, die in der Auffassung gipfelt, alle Men schen mögen Brüder werden. Damit wird die 1978 von Prof. Herbert Kegel bei der Dresdner Philharmonie eingeführte Praxis fortgesetzt, das klassische Meisterwerk in inhaltlicher Korre spondenz zu seiner weltanschaulich engagier ten zeitgenössischen Komposition erklingen zu lassen. War es seinerzeit Arnold Schönbergs „überlebender von Warschau", so sollte dies mal eigentlich Luigi Nonos Chile-Stück „Como una ola de fuerza y luz" vorangestellt werden, dessen Aufführung jedoch aus technischen Gründen auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden muß. „Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet . . . überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschenge schlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im gan zen damit beschaffen sein mag, welches zu un tersuchen und näher zu bestimmen nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich über zeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltlite ratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle Vorbehalten ist." Diese Worte schrieb Jo hann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbejahr Ludwig van Beethovens. Es erübrigt sich zwei fellos nachzuweisen, wie sinnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehrenvolle Rolle" erfüllt hat. Aber „Weltliteratur" ist nicht nur li terarisch zu begreifen, sondern auch im musi kalisch-musikhistorischen Sinne. Beethoven, der große Wiener Klassiker, schrieb kurz vor der Vollendung der neunten Sinfonie, im April 1823: . so hoffe ich endlich zu schrei ¬ ben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust" In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu charak terisieren, was man den deutschen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hinweis auf Goethes „Faust" und Beet hovens „Neunte". Zwei Ebenbürtige schufen im Bestreben der „Besten" weltumspannende Botschaften, die einzigartigsten Dokumente wohl aus der deutschen klassischen Kulturpe riode. Hat Goethe in seinem „Faust", der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner ganzen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte" Ausdruck sei ner „Weisheit und Philosophie", seine weltan schaulich-künstlerische Offenbarung. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die endgültige Gestaltung seines größten Werkes gerungen. Bereits der 23jährige Komponist trug sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie gedacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 findet sich ein Entwurf für die Textworte „. . . muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven das Goethe-Gedicht „Kleine Blumen kleine Blätter" auf eine Melodie, die im wesent lichen schon das „Freudenthema der neunter Sinfonie vorwegnahm. 1812 bestand die Absicht eine Festouvertüre mit Chorgesang über Schil lers Freuden-Ode zu schaffen. Die ersten Skiz zen zur neunten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informier! eine Tagebucheintragung über den Plan einei Sinfonie mit chorischem Finale. Erst 1822 be gann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Ely sium" endgültige Gestalt anzunehmen. Lang sam reifte nun auch die Chor-Lösung des Fina les, das — im Februar 1824 vollendet — schließ! lieh den monumentalen Bau der Sinfonie krönte, einer Sinfonie „auf die Art" wie schon Beetho vens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch weit grö ßer gehalten als selbe". Beethovens Ringen um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonie lose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte" auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der bereits Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beetho ven ursprünglich rein instrumental vorgestellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine: Fuge über das variierte Thema vom zweiten! Satz war gedacht. Man sieht also, daß die Idee der neunten Sinfonie für ihren Schöpfer nicht von vornherein feststand, sondern daß sie erst während der geistigen und formalen Auseinan dersetzungen reifte und Gestalt annahm. Da Worte die Aussage der Musik konkretisieren! ist diese Idee der „Neunten" untrennbar mit den Schillerschen Versen verbunden, deren Aus-I wähl wiederum bezeichnendes Licht auf diel Persönlichkeit des Komponisten, auf dessen hu-| monistische, ethische und religiöse Anschauung gen wirft. 1 Die sinfonische Gestaltung des Chorfinales, diel Verbindung der vorausgehenden drei instru-l mentalen Sätze mit dem abschließenden Vokal-I teil war ein mühevoller Prozeß. Das Rezitativ! sollte ursprünglich mit den Textworten „Heute! ist ein feierlicher Tag . . . dieser sei gefeiert mill Gesang" beginnnen. Dann dachte Beethoverl an die Worte: „Laßt uns das Lied des unsterbli-l chen Schiller singen!" Endlich wurde die textli-l ehe Lösung des Baß-Solos gefunden: „O Freun-I de, nicht diese Töne, sondern laßt uns angeneh l mere anstimmen und freudenvollere". Als Beethoven die „Neunte" vollendet hattel herrschte in Österreich, naturgemäß besonder!