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L’Enfant et les Sortileges (Das Kind und der Zauberspuk) Wer bei dem Titel „L’Enfant et les Sortileges" (Das Kind und der Zauberspuk) an eine naive Kinderoper denkt, wird schon durch die Bezeich nung „Fantaisie lyrique" darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Werk um etwas An spruchsvolles handelt. Zwar führt der Kompo nist den Hörer und Zuschauer in die kindliche Phantasiesphäre, und auch eine pädagogische Absicht ist unüberhörbar, doch wird die einfache Geschichte von der Wandlung eines anfangs faulen und bösartigen Jungen musikalisch mit einem solchen Raffinement erzählt, daß hier nur ein mit dem modernen Orchesterklang vertrau ter Hörer folgen kann — zumal wenn der szeni sche Eindruck fehlt. Der Komponist Maurice Ravel (1875 bis 1937) hatte zeitlebens eine besondere Vorliebe für das Kindliche und — davon abgeleitet — für das Naturhafte, Spielerische und Phantastische. 1908 entstanden die fünf Kinderstücke „Ma Mere l'Oye" („Meine Mutter, die Gans"), die vier Jahre später zu einem Ballett umgestaltet wurden: das Feenreich, der kleine Däumling, chinesische Pagoden, die Prinzessin und ein als Ungeheuer verzauberter Prinz und schließlich ein Zaubergarten werden mit zarten und diffe renzierten Klängen geschildert. In diesen Be reich gehört auch das Ballett „Daphnis und Chloe", die poesievolle Liebesgeschichte zweier einander entdeckender junger Menschen. Als letztes seiner Bühnenwerke entstand dann 1920 bis 1925 „Das Kind und der Zauberspuk” — in seiner klanglichen Farbigkeit und seiner anre genden Phantasiefülle eines der originellsten musikalischen Werke unseres Jahrhunderts. Eine andere charakteristische Seite im Schaffen Ravels ist die Vorliebe für die Musiküberliefe rung des Baskenlandes (Ravel stammte aus einem Pyrenäen-Dorf) und für die spanische Folklore. Das wird besonders deutlich in der „Rhapsodie espagnole",, in der geistvollen mu sikalischen Komödie „Die spanische Stunde" (1911 in Paris uraufgeführt) und in dem ur sprünglich als Ballett konzipierten „Bolero" (1928), der seinen Welterfolg gleichermaßen der hinreißenden Disposition wie der raffinier ten orchestralen Ausarbeitung verdankt. Von den impressionistischen Klängen Debussys an geregt sind die vielen zarten und koloristischen Töne, die in den Werken Ravels immer wieder mit expressiven Steigerungen kontrastieren. Diese große Spannweite ist auch für die lyrische Fantasie in zwei Teilen L’Enfant et les Sortileges (Das Kind und d er Za u - berspuk) kennzeichnend, die ein hervorra gendes Beispiel der unerschöpflich scheinen den und so vielgestaltigen musikalischen Erfin dung Ravels ist; diese fasziniert zunächst in der Belebung der Gegenstände um das Kind, schafft aber dann in der Darstellung von Naturerschei nungen wahre Klangwunder (vergleichbar dem in den gleichen Jahren entstandenen „Schlauen Füchslein" Janäceks). Idee und Textvorlage zu dem ungewöhnlichen Bühnenwerk stammen von der französischen Schriftstellerin Sidonie-Ga- briele Colette, die mit vielen Romanen und Schauspielen erfolgreich war. Der Ausgangspunkt der kleinen, kaum eine drej^. viertel Stunde dauernden Handlung ist gc^H real: ein Junge sitzt sehr unlustig über seinen Schularbeiten. Die larmoyante Einleitungsmusik (zwei Oboen und ein Kontrabaß) schildert auch das triste Milieu des Kindes, ein altehrwürdiges Landhaus voller Plüsch und Plunder, doch mit einem lockenden Ausblick auf den Garten. Die Vorwürfe der Mutter fordern erst recht Trotz heraus. Kaum ist sie aus dem Zimmer, fängt der Junge an, wütend herumzutoben und allerlei dumme Streiche zu machen; Teekanne und die kostbare chinesische Tasse werden herunterge worfen, ein aus dem Käfig entweichendes Eich hörnchen bekommt Stiche mit der Schreibfeder, die Katze wird geschlagen, er durchstochert das Feuer im Kamin, zerfetzt die Tapete und reißt der alten Standuhr das Pendel heraus. Die Aggressionen des Kindes sind musikalisch höchst plastisch in einem jagenden, die Klangmöglich keiten des vollen Orchesters entfesselnden Pre sto geschildert (mit einem solistisch hervortre tenden Klavier). Nun aber wird es phantastisch und unheimlich: die mutwillig zerschlagenen und mißhandelten Dinge beginnen sich zu bewegen, zu sprechen und den Jungen zu ängstigen. Lehnstuhl, Sessel und andere Möbel attackieren ihn, die Stai^A uhr ruft und schlägt wild, Teekanne und Tas^ jagen zu einem penetranten Foxtrott durchs Zimmer (ein ironisches Zitat der in den zwanzi ger Jahren aus Amerika herüberkommenden Modemusik, englisch gesungen und im Jazz-Stil begleitet). Dem Jungen tut die zerschlagene Tasse leid (chinesisch klingende Episode mit Celesta-Solo). Als er sich dem Kamin nähert, schlagen ihm drohende Flammen entgegen, das Feuer singt in extrem hoher Lage und mit vir tuosen, aggressiven Koloraturen. Völlig verängstigt muß das Kind eine neue ge spenstische Erscheinung erleben: die von der Wand herabhängenden zerrissenen Tapeten bilder von Hirten und Schäferinnen, von Scha fen, Ziegen und Hunden beleben sich und er füllen plötzlich den Raum; aus einem tänzeri schen, polyphonen Pastoral-Ensemble (mit ei nem durchgehenden markanten Trommel- Rhythmus) lösen sich Stimmen des Vorwurfes wegen der Zerstörung so schöner Bilder. Auch die Figuren des Buches, das der Junge aus Faul heit nur zur Hälfte gelesen und dann wegge worfen hat, werden lebendig; die Prinzessin klagt hierüber in einem wehmütigen, zunächst von einer Flöte und dann von einer Klarinette umspielten Gesang (diese Episode ist für die orchestrale Koloristik Ravels und seine vom Stil Jes französischen Chansons geprägte Diktion ^Bsonders charakteristisch). Schließlich kommt Irnich noch aus dem zerrissenen Buch ein selt samer Kobold hervor, der in Zahlen und Maße gekleidet ist und dem Jungen mathematische Aufgaben stellt; in einem rhythmisch abrupt skandierten, grandios anschwellenden Presto umschwirren ihn in rasendem Wirbel Zahlen-Er- scheinungen und deren verwirrende Rufe. Noch ganz benommen von dieser Tortur wird der Junge durch ein Katzenpaar aus dem Gar ten aufgeschreckt, das (zu seltsam verfremdeten Walzerklängen) ein schauriges Duett miaut und ihn nach draußen lockt. Hier umschwärmen ihn viele Tiere mit ihren charakteristischen Lauten. Als er sich an einen Baum lehnen will, beginnt dieser zu jammern; denn der Junge hat am Tage zuvor mit einem gestohlenen Messer die Rinde zerschnitten. Libellen finden sich zu einem anmutigen Walzer zusammen, in den eine Nach tigall, Frösche und eine Fledermaus — die Un taten des Jungen beklagend — einstimmen. Da fällt ein verletztes Eichhörnchen zu Boden; der Junge empfindet Mitleid und verbindet mit sei nem Tuch dessen Pfote. Das eben Erlebte hat in ihm den Sinn für die Natur geweckt, die er jetzt begeistert für sich entdeckt (musikalisch ist die ser Vorgang in einer empfindungsvollen Melo die ausgedrückt). Die Tiere,die ihn bisher ängst lich gemieden hatten, nähern sich ihm zutraulich. Und als er das Wort „Mama" sagt, hat dieser Naturlaut eine magische Wirkung: erfreut über die Wandlung des Jungen zerstreuen die Tiere sich. Musikalisch ist diese Entwicklung in einer zunächst erregten Chorszene gestaltet, die vom Orchester sehr nuancenreich begleitet wird (be sonders tritt eine auf lustig-behäbige Weise Zufriedensein ausdrückende Fagott-Melodie hervor), die dann ruhig und zart verklingt. Angesichts eines so üppigen musikalischen wie szenischen Erfindungsreichtums ist es bedauer lich, daß Ravel nach „Das Kind und der Zauber spuk" nicht wieder für die Bühne arbeitete. Das mag auch mit seinem sich sehr verschlechtern den Gesundheitszustand Zusammenhängen (in den letzten Lebensjahren war Ravel gelähmt). Die Uraufführung fand am 29. März 1925 im Theater von Monte Carlo unter Leitung von Vic tor de Sabata statt und löste helle Begeisterung aus. Zehn Monate später folgte die Einstudie rung an der Pariser Opera Comique und im Mai 1927 die deutsche Erstaufführung im Leipzi ger Opernhaus mit Gustav Brecher als Dirigent. Leider kam es dann — wohl vor allem wegen der ungewöhnlichen Anforderungen dieser Bal lett-Oper — nur zu vereinzelten Aufführungen (u. a. Prag, Wien, San Francisco, Mailand, Bue nos Aires und London). In der außerordentlich lebendigen und konzentrierten musikalischen Gestaltung, aber auch in der psychologisch in teressanten Sicht des Kindes im Verhältnis zu seiner Umwelt ist Ravels „Das Kind und der Zauberspuk" eines der wertvollsten Werke des neueren Musiktheaters. Dr. Stephan Stompor