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8. PHILHARMONISCHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Freitag, den 11. April 1980, 20.00 Uhr Sonnabend, den 12. April 1980, 20.00 Uhr ohilhsiroooinio Dirigent: Johannes Winkler Solist: Viktor Tretjakow, Sowjetu nion, Violine Franz Liszt 1811-1886 Orpheus — Sinfonische Dichtung Sergej Prokofjew 1891-1953 Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19 Andantino Scherzo (Vivacissimo) Moderato PAUSE Peter Tschaikowski 1840-1893 Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 (Pathetique) Adagio — Allegro non troppo Allegro con grazia Allegro molto vivace Finale (Adagio lamentoso) VIKTOR TRETJAKOW wurde 1946 in Krasnojarsk gebo ren und entstammt einer Musikerfamilie. Als Sieben jähriger erhielt er ersten Musikunterricht in Irkutsk. Seit 1959 studierte er an der Zentralen Musikschule des Moskauer Konservatoriums, seit 1965 am Moskauer Konservatorium selbst bei Prof. Jankelewitsch. 1963 gab er seine ersten öffentlichen Konzerte, 1965 gewann er den 1. Preis für Violine im Moskauer AIlunions-Wett- bewerb, 1966 den 1. Preis des Tschaikowski-Wettbe- werbes in Moskau. Jury-Vorsitzender David Oistrach sagte damals: „Es scheint, daß es für ihn keine Schwie rigkeiten gibt. Seine Technik im Verein mit der ihm eigenen Energie und seinem Temperament halfen Tret jakow, bereits im ersten Ausscheid die führende Stel lung einzunehmen." Damit begann die internationale Karriere des Künstlers, der heute zu den Besten seines Faches gehört, und schon in den meisten Ländern Europas (seit 1969 auch in der DDR), in Kanada, Nord- und Südamerika sowie in Japan konzertierte. ZUR EINFÜHRUNG Zwischen 1848 und 1858 komponierte Franz Liszt in Weimar zwölf’ einsätzige sinfonische Dichtungen, mit denen er einen neuen Typus der Programmsinfonie prägte. Er setzte das Bestreben Hector Berlioz’ fort und gelangte zur Befreiung der Orchestermusik vom Zwang erstarrter Formen, indem er unermüdlich um den treffendsten musikalischen Ausdruck sei ner Ideen rang. Mit seinen ideellen und for malen wie auch mit seinen kühnen harmoni schen Neuerungen wurde er gemeinsam mit Richard Wagner der bedeutendste Führer der sogenannten Neudeutschen Schule. Von seinen sinfonischen Dichtungen werden heute nur noch wenige gespielt. Man nennt sie weit schweifig, bombastisch, sentimental, übertrie ben pathetisch, ja trivial. Bela Bartök, der größte ungarische Nachfolger Liszts, stellte je doch schon 1911 fest - und das sollten wir heute beherzigen, die wir uns um einen neuen Stand punkt dem Komponisten gegenüber bemühen: „Zugleich mit dieser Trivialität weist er fast überall eine bewundernswerte Kühnheit auf, entweder in der Form oder in der Invention. Diese Kühnheit bedeutet ein wahrlich fantasti sches Streben nach dem Neuen und Seltenen. In seinen Werken sagt er, zwischen viel Scha blonenhaftes verstreut, mehr über seine Zeit hinausgehend Neues als viele andere Kompo nisten . . . Für die Weiterentwicklung der Mu sik entdeckte ich bei ihm einen viel größe ren Genius als bei Wagner und Strauss . . . Das Wesentliche dieser Werke müssen wir in ihren großen, in die Zukunft weisenden Kühn heiten, dem damals zum allererstenmal aus gesprochenen Neuen suchen und finden. Die se Dinge erheben Franz Liszt als Komponisten in die Reihe der Großen." In Fortsetzung jahrzehntealter Liszt-Auffüh rungstraditionen bei der Dresdner Philharmo nie — so bemühten wir uns in den letzten Jah ren u. a. um eine Neuentdeckung der Dante- Sinfonie, der Sinfonischen Dichtung „Mazep- pa", des Oratoriums „Die Legende von der heiligen Elisabeth", im nächsten Jahr wird die „Faust-Sinfonie" folgen — erklingt heute die Sinfonische Dichtung „Orpheus", die ur sprünglich 1854 als musikalischer Prolog zu einer Aufführung von Glucks „Orpheus und Eurydike" in Weimar entstanden war, im glei chen Jahr noch zur Sinfonischen Dichtung um gestaltet und unter Liszts Leitung in Weimar uraufgeführt wurde. Das Autograph des Werkes befindet sich im Weimarer Liszt-Mu ¬ seum. Im Vorwort zu seinem „Orpheus" be richtet der Komponist, daß er zu der Tondich tung weniger von der schlichten Zeichnung der Fabel durch Gluck als vielmehr durch eine etruskische Vase im Pariser Louvre inspiriert worden sei, auf der dargestellt ist, wie „jener erste Dichter-Musiker" durch seine Kunst Mensch, Tier und Gestein in Bann schlägt. Nach Liszts Auffassung ist Orpheus die Per sonifizierung der Kunst, die die Mission habe, die niedrigen Triebe der Menschheit zu ver edeln. Diese Gedankengänge liegen dem dreiteiligen ariosen Tongemälde zugrunde. Der von zwei Harfen begleitete Gesang des Dichters ertönt bald in leidenschaftlichem^ bald in sanftem Ausdruck, schwillt in eine^ Steigerung zu hymnischem Lobgesang auf die Kunst mächtig an und klingt in verschweben- den Harmonien, im zarten Pianissimo aus — zum Zeichen der besänftigten Natur. Der sowjetische Komponist Sergej Pro kofjew schrieb zwei Violinkonzerte. Das erste, op. 19, D-Dur, entstand bereits in den Jahren 1915 bis 1917 — die in Petrograd vor gesehene Uraufführung mußte wegen der Re volutionsereignisse abgesagt werden —, das zweite, op. 63, g-Moll, wurde 1935 vollendet. Während der Arbeit am 1. Violinkon zert, das 1922 in Paris zum erstenmal der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, beschäftigte sich Prokofjew gleichzeitig mit der dritten Kla viersonate und der Dostojewski-Oper „Der Spieler". Das Konzert besitzt einen reichbe dachten virtuosen Solopart. Seine grundsätz liche Haltung ist jedoch mehr — dem Soloin strument entsprechend — lyrisch, gesangvoll, ohne weichlich zu sein, mit sinfonischem Form bewußtsein konzipiert. Daß in dem liebens würdigen Werke, das Prokofjew wegen einiger „träumerischer Motive" besonders schätzten auch die humorvoll-spritzige, spielerisch-an’ mutige Seite seines ausgeprägten Personal stils zur Geltung kommt, versteht sich fast von selbst. Ungewöhnlich ist die formale Anlage dieser reifen, klaren und von kontrastreicher Thematik getragenen Komposition: Zwei lyri sche langsame Sätze umrahmen einen schnel len Scherzosatz. Den ersten Satz (Andantino) bestimmt ein zartes, träumerisch-sangliches Thema, das später noch einmal, in der Coda des Finales, erklingt. Virtuose Passagen und Triller leiten zum chromatischen, humorigen Nebenthema über, dessen muntere Kapriolen in denkbar großem Gegensatz zur melodischen Lyrik des