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Beilage z« Nr. 154 des DkeAdNtk IöUkMls Mittwoch, 7. Juli 1909 Billa Claudia. Bon John «me» Mitchell. Einzig autorisierte Übersetzung au» dem Amerikanischen von Joachim Graf v. Oriola. >6 (Fortsetzung zu Nr. 151.) „Aber-die ist ja nur so hoch." - Und Mr. Goddard hielt seinen Stock ungefähr eine Elle über den Boden. „Ja, vor fünfzehn Jahren war sie nur so hoch." „Arme Leute! Und wann soll die Hochzeit sein?" „O, vielleicht nie!" rief Morris aus. „Ich weiß ja noch gar nicht, ob sie mich nimmt." „Dann ist Ihre ganze zur Schau getragene Selig keit also der reine Schein, ein hohler Scherz, der gar keinen Hintergrund hat." „O, nein, Mr. Goddard! Ich schrieb ihr vorigen Monat, um ihr zu sagen — um sie zu fragen — ob sie —" „Na, heraus damit!" „Die Sache nicht in Erwägung ziehen wollte." „Nun?" „Und gestern abend erhielt ich das hier." Morris zog einen Brief aus seiner inneren Rock tasche und hielt ihn seinem Freunde hin. Aber der alte Hrrr runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Lesen Sie es vor, wenn es durchaus sein muß. Ich kann ohne meine Brille nicht sehen." So las denn der junge Mann: Paris, den 20. Februar. „Lieber Morris! Ihr überraschender Brief wurde mir von Tivoli nachgeschickt. Wir sind hier auf der Rückreise nach dem lieben, alten Amerika. Die arme Mama wurde, wie Sie wissen, durch das rätselhafte Verschwinden Santo- vanos vollständig niedergeschmettert." „Verschwinden, von was?" „Von Santovano. Das war der Mann, den sie heiraten sollte. Er verschwand ungefähr vierzehn Tage vor der Hochzeit." „Um Gotteswillen, Morris! Ist sie denn so fürchter lich?" Morris lächelte und nickte. „Gut, gut! Und trotzdem lassen Sie sich durch den Eindruck, den sie auf andere macht, nicht abschrecken?" „Nein, nicht ein bißchen." „Und wie gelang es diesem Scanty Barno zu ent schlüpfen?" „Das weiß niemand. Er. sollte mich an jenem Nachmittag in Rom treffen, aber er kam nicht zum Vorschein. Sein Hut war fort und so wird er wohl voraussichtlich nach Rom gefahren sein. Man glaubt, daß er da irgendwie in eine Falle geraten ist." „Fand man den Leichnam?" „Nein." „Oder seine Uhr oder sein Geld?" „Nein, nichts. Keine Spur, nicht einen einzigen Anhalt." „Er muß verzweifelt und ganz außer sich gewesen sein. Ich liebe Leute, die eine Sache gründlich tun. Viele Menschen sind vor der Ehe zurückgeschrcckt, sehr viele, aber wenige gerade auf die Art. Ich nehme an, daß sie es aufgegeben hat, auf ihn zu warten?" „Schon lange." „Und Sie sind nun der nächste?" „Das hoffe ich." „Hat sie Sie leicht eingefangen?" „Nichts leichter als das. Ich schnappte nach dem Köder, noch ehe er das Wasser berührt hatte." „Morris!" „Ja, Mr. Goddard." „Sie sind ein Narr." „Aber ich bin's gern." „Natürlich. Das sagen alle Narren. Aber fahren Sie fort mit Ihrem Brief." „Ein amerikanischer Arzt — Gott segne ihn! — sagt Mama, daß ihr die Luft in Neu-England wohler tun wird als alles andere in der Welt. So sind wir also auf der Heimreise. Wir fahren nächsten Mittwoch auf der „Pouraine" von Havre ab. Aufrichtig die Ihre Elisabeth Farnham. Mr. Goddard zog die Augenbrauen noch mehr zusammen. „Das würde ich nun kaum einen Liebes brief nennen." „Ja, es ist noch folgendes Postskriptum da: „k. 8. Ich habe jetzt nicht Zeit, Ihnen auf alles zu antworten, was Sie in Ihrem Briefe sagen, aber vielleicht kann ich Ihnen etwas Interessantes mitteilen, wenn wir uns zufällig in Amerika begegnen sollten." Hier gab es Mr. Goddard auf, eine ernste Miene zu bewahren. „Wenn wir uns zufällig in Amerika begegnen sollten! Das ist gut! Und wann ist der Dampfer fällig?" „Morgen früh." „Und Sie werden, wenn es nötig ist, die ganze Nacht auf dem Kai, möglicherweise in einem Schnee sturm, auf sie warten?" Morris nickte: „Jawohl. Tausend Nächte, wenn es sein muß und in jedem Wetter." „Nun, es hat den Anschein, als ob sie Sie schließ lich doch in Amerika treffen könnte — ganz zufällig, natürlich." Im nächsten Augenblick jedoch runzelte er wieder gewohnheitsmäßig die Stirn. . „Es ist nie zu meiner Kenntnis gekommen, daß Sie eine ganze Nacht im Schnecsturm eine meiner Fabriken bewacht hätten." „Aber ich würde es tun, wenn es nötig wäre." Der alte Herr schüttelte den Kopf und schritt auf seinen Wagen zu. Vor dem Einsteigen sagte er mürrisch: „Nun gut, rennen Sie in Ihr Unglück, wenn es nicht anders sein kann, aber versuchen Sie gesund und arbeitsfroh in einem Jahr oder so zurückzukehren." „Beiten Dank! Aber im Ernst, Mr. Goddard, wenn es Ihnen unangenehm ist, daß ich heute fahre, so will ich die Reise aufschieben und mich den Maschinen widmen.' Mr. Goddard drehte sich um und zog die mächtigen Augenbrauen noch enger zusammen „Was, die Reise aufgeben! Tas einzig wichtige Geschäft im Leben aufgeben wegen ein paar lebloser Maschinen! Lieber soll die ganze Baumwollenindustrie in den Vereinigten Staaten zugrunde gehen." Tann trat er näher an Morris heran, legte seinen Stock auf die Schulter des jungen Mannes und gab seinen Worten durch mehrere freundschaftliche Schläge Nachdruck. „Besser, diese Maschinen wären bei ihrer Geburt erwürgt worden, als daß sie zwischen Sie und dieses verblendete Mädchen treten sollten. Ich war auch einmal jung und ein ebensolcher Narr. Es ist die ange nehmste Erinnerung, die ich habe. Nein, nein! Sie fahren nach New York und bestehen auf Ihrem Recht." „Meinem Recht?" „Ja, dem Recht jedes ehrlichen Verliebten, eine unvernünftige Last zu werden. Seien Sie so glücklich und so närrisch wie es das Gesetz nur irgend erlaubt. Man ist nur einmal jung. Und vergessen Sie eins nicht: wenn Sie verheiratet sind, werde ich Ihren Anteil an dem Geschäft verdoppeln." Morris schluckte. Seine Augen wurden feucht, er versuchte zu sprechen, aber er konnte nur stammeln : „Ich danke Ihnen, Mr. Goddard, ich danke Ihnen." Aber der ältere Partner drohte nur warnend mit dem Stock: „Unter einer Bedingung übrigens; daß Sie das Mädchen bekommen. Wenn Ihnen das nach dem Postskriptum mißlingt, kann ich Sie nicht mehr ge brauchen." Dann drehte er sich um und ging fort. XXI Pier Tage später blieb Mr. Goddard bei der Be sichtigung seiner neuen Spinnerei vor einer offenen Tür stehen. Seine Augen fielen auf einen jungen Mann, der in dem Zimmer saß. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Blatt, auf das verschiedene Maschinenteile gezeichnet waren, aber seine Augen blickten träumerisch durch das gegenüberliegende Fenster. Leise stieß Mr. Goddard die Tür auf und trat ein. Doch das Klappern vieler Webstühle oder die Wellvergessenheit des Träumers ließ sein Eintreten unbemerkt bleiben. Die wandernden Gedanken wurden indes durch eine bekannte Stimme in die Wirklichkeit zurückgerufen: „Maschinenbau ist interessant." Hastig von seinem Stuhle aufspringend schüttelte Morris mit leichtgeröteten Wangen dem Mann mit dem erschreckenden Äußeren, der ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete, die Hand. „Nun, das freut mich, daß Sie lebendig wieder zurückgekommen sind. War der Besuch erfolgreich?" „Ja, das war er." „Aus dem beseligten und etwas gerührten Ausdruck, der sich vor wenig Augenblicken auf Ihrem Gesicht ausprägte, schließe ich, daß New York und — was es enthält, einen günstigen Eindruck auf Sie gemacht hat?" Morris nickte. „Sie läßt Sie übrigens herzlich grüßen, Mr. Goddard." „Mich? Unverschämtheit! Unglaubliche Unver schämtheit!" Und die buschigen Augenbrauen wurden zu finsterem Stirnrunzeln zusammengezogen. „Wann erhielten Sie den letzten Brief von ihr?" „Heut morgen." „Dann werden Sie ihr wohl kaum vor heut abend wieder schreiben?" Der Bräutigam lachte. „Ja, sehr richtig, heut abend." Mr. Goddard nahm eine Nelke aus seinem Knopf loch. „Legen Sie das in Ihren Brief und sagen Sie ihr, daß meine herzlichsten Grüße und meine auf richtigsten Glückwünsche die kleine Blume begleiten. Ich bin überzeugt, ihr werdet beide sehr glücklich werden." Dann, ehe der junge Mann antworten konnte: „Sanderson meldet mir, daß die große Maschine nicht ganz in Ordnung ist. Kommen Sie, wir wollen uns die Sache einmal ansehen." Als sie das Zimmer verließen, ergriff Morris einen offenen Brief, der auf dem Tisch lag, und steckte ihn in die Tasche. Er begann: „Liebster Junge, ist es Dir denn auch klar, daß schon drei Tage vergangen sind, seit wir uns gesehen haben und daß Du mir erst viermal geschrieben hast? O, welche Schande! Dieser Brief soll Dir übrigens bloß ankündigen, daß Du morgen eine große, schwere Kiste erhalten wirst, eine kleine Über raschung von jemandem, der immerfort an Dich denkt und —", , . ; , ' (Fortsetzung folgt.) Kunst und Wissenschaft. Wissenschaft. In der Zusammenkunft von Pro fessoren der vier Sächsischen Hochschulen, die am vorigen Sonnabend in Freiberg stattfand, hielt Hr. Oberbergrat Prof. vr. Papperitz einen bedeut samen Bortrag über „Neuere Anschauungs mittel in der darstellenden Geometrie". Der Bor trag eröffnet neue Bahnen für den Unterricht. An Stelle der Zeichnungen, die immer etwas Starres haben und an Stelle von Modellen, selbst beweglichen, setzte der Hr. Bortragende, anknüpfend an die Grundsätze der Kinetik, höchst sinnreich konstruierte bewegliche Modelle, die ihrerseits in beständiger Bewegung begriffen, ihre Schatten auf einen hellbeleuchteten Projektionsschirm warfen und so verschiedene Schnittkurven, einander durch dringende Flächen, ja selbst Kurven höherer Ordnung wundervoll zur Erscheinung brachten. Diese Art, räum liche Vorstellungen zu wecken, muß den Unterricht in der darstellenden Geometrie besonders in unseren Gymnasien ungemein beleben. — Die Berliner theologische Fakultät hat einen empfindlichen Verlust erfahren: im 73. Lebensjahre ist der Kirchenhistoriker Geh. Konsistorialrat Prof. v. vr. pkil. Samuel Martin Deutsch, Mitglied des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, gestorben. Er hat fast ein Bierteljahrhundert dem Lehrkörper der Berliner Universität als außerordentlicher Professor angehört. Musik. Durch ein besonderes Legat ist, wie „Monte artiste" mitteilt, die prachtvolle Stradivarius, mit der Joseph Joachim so oft seine Zuhörer entzückte, in den Besitz seines Neffen, des Prof. Harold Joachim in Oxford, übergegangen. Die Geige war ein Ehrengeschenk, das dem Meister am 15. April 1889 im Londoner St. James-Saale zu seinem 50jährigen Künstlerjubiläum überreicht worden war. Eine große Anzahl englischer Bewunderer Joachims war damals zusammengetreten, um dem Meister der Geige dies Instrument zu schenken, das für 24480 M. angekanft wurde. Der kunstvoll gearbeitete Violinkosten trägt eme Neine Metallplatte mit der Inschrift „An Joseph Joachim. Um die Erinnerung an die 50. Wiederkehr des Tages wachzuhalten, an dem er zum erstenmal in der Öffent lichkeit spielte, und als ein Zeugnis der hohen Bewun derung und der großen Wertschätzung seiner engliscken Freunde. 15. April 1889." Diese Stradivarius war früher im Besitze Viottis gewesen. Theater. Eine Pfändung fand gestern im Hebbel- Theater in Berlin auf Betreiben des Hauptgläubigers des Direktors vr. Robert statt. Sämtliche Möbel, Deko rationen rc. wurden für eine Forderung von 150000 M. gepfändet. Das Defizit der verflossenen Spielzeit be trägt etwa 200000 M. Diese Summe war bisher durch Darlehne des genannten Hauptgläubigers zum größten Teil gedeckt. Infolge von Streitigkeiten zwischen diesem und Direktor Robert ist die Krisis nun eingetreten. * Dem soeben von der König!. Generaldirektion der Hoftheater herausgeaebenen Rückblick auf das Spieljahr 1908 bis 1909 entnehmen wir folgendes: Die König!. Hofoper eröffnete die Spielzeit Sonntag, den 9. August 1908, mit der Oper „Margarethe", und schloß die Spielzeit Sonntag, den 27. Juni !909, mit „Tannhäuser". In diesem Zeiträume wurden an 294 Spieltagen 56 verschiedene Opern, 1 Schauspiel, 1 Posse, 3 Ballette, 1 Mittagsvorstellung (zugunsten des Soldatenheims) und 1 Fesivorstellung (zur Feier des 60jährigen Regierungejubiläums des Kaisers Franz Joseph) gegeben. An 16 Abenden fanden im König!. Opern hause Konzerte statt, und zwar veranstaltete die Königl. Generaldircktion 6 Symphoniekonzerte (Serie 8), 1 außer ordentliches Konzert am 9. November 1908, und die Königl. musikalische Kapelle 6Symphoniekonzerte (Geriet), 1 Aschermittwochskonzert, 1 Palmsonntagskonzert und 1 Generalprobe zum Palmsonntagskonzert. Von den 56 Opern wurden zum erstenmal gegeben 4 Opern und 1 Pantomime, nämlich: „Eugen Onegin", Lyrische Szenen in drei Aufzügen (sieben Bildern). Text nach Puschkin, deutsch von A. Bernhard. Musik von P. Tschai kowski. „Elektra", Tragödie in einem Aufzuge von Hugo v. Hofmannsthal. Musik von Rickard Strauß (U>- aufführung.) „Der steinerne Gast" (8» gtatus 6u Oom- manckeur). Pantomime in drei Bildern von Paul Eudel und Evariste Mangin. Musik von Adolf David. „Else Klapperzehen", Musikalische Komödie in zwei Aufzügen von Herm. W. v. Waltershausen. (Uraufführung.) „Die Dame Kobold", Komische Oper in drei Aufzügen, frei nach dem gleichnamigen Lustspiel von Pedro Calderon de la Barca. Mit der Musik zu „6osi kau tuttv" von W. A. Mozart. Bearbeitet von Kar! Scheidemantel. (Uraufführung.) Es wurden aufgeführt „Eugen One gin" 20 mal, „Tiefland" 14 mal, „Elektra" 13 mal, „Carmen", „Tannhäuser" und „Lohengrin" je 11 mal, „Der fliegende Holländer" 10 mal rc. Neu eingetreten sind in den Verband der Königl. Hofoper: Hr. Paul Trede am 1. August 1908, Hr. Albert Coates, Kapellmeister, am 1. August 1908, Frl. Zdenka Kraus am 1. August 1908, Frl. Gertrud Sachse am 1. August 1908, Frl. Irma Tervani am 1. August 1908, Hr. Fritz Soot am 1. August 1908, Hr. Leopold Löschcke am 1. August 1908, Hr. Hans Bacmeister, Regisseur, am 1. September 1908, Hr. Oskar Foerster am 1. September 1908, Frl.. Anna Zoder am 1. September 1908, Hr. Rudolf Schmal nauer am 1. September 1908, Frl. Margarethe Siems am 1. Januar 1909, Hr. Franz Schwarz am 1. Mai 1909. Ausaeschieden sind: Hr. Hans Erwin am 3l. August 1908, Hr. Rudolf Jäger am 31. August 1908, Frl. Johanna Kattner am 31. August 1908, Hr. Leonor Engelhard am 30. September 1908, Hr. Ludwig Mödlinger, Regisseur, am 1. Oktober 1908 (pensioniert), Frau Erika Wedekind am 31. März 1909, Hr. Ernst Wachter am 30. April 1909, Hr. Georg Grosch am 11. Mai 1909 (gestorben), Frl. Zdenka Kraus am 31. Juli 1909, Hr. Albert CoateS, Kapellmeister, am 31. Juli 1909. DaS Königl. Opern haus wurde in der Spielzeit 1908/1909 (mit Ausschluß der Inhaber von Dienst- und Freiplätzen) von insgesamt 334 291 Personen besucht. Davon waren 25 190 Besucher Inhaber von Jahresstammsitzen.