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Johannes Brahms Symphonie Nr. 2, D-dur, Op. 73 seine materielle Basis noch immer als Dirigent der Wiener Gesellschafts konzerte sichern mußte, genoß die Sommermonate als Freiraum zum Komponieren. Den Sommer 1877 verbrachte er in Pörtschach am Wör thersee, einer damals fast unberühr ten Gegend. „Der Wörthersee ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, daß man sich hüten muß, keine zu treten...“ Brahms, ähnlich Beethoven ein unentwegter Spazier gänger, hat sich diese Symphonie buchstäblich erwandert. Sie atmet Freiluft, Sommerwärme und Natur beglückung. Eine Pastorale, wie so viele Deuter formuliert haben, ist sie deshalb aber nicht geworden. Kein einziger Takt vermag konkrete ländli che Assoziationen zu wecken, setzt zur „Tonmalerei“ an oder sinkt gar zu idyllischer Beschaulichkeit herab. Das beherrschende tiefe Naturgefühl ist zur reinen Musik sublimiert. Brahms schuf sich eine innere Land schaft als Überhöhung und Ideali sierung der äußeren. Als größtes und bedeutendstes Werk wuchs diese Symphonie aus einer längeren Schaf fensperiode, die sich in lyrische Empfindung entspannte: der ersten Symphonie waren vier Liedergrup pen gefolgt, nach der zweiten ent standen Motetten, Balladen und Ro manzen, und ganz unverkennbar ist viel Kantables in die D-dur-Sympho- nie eingegangen. Brahms’ Schaffens kurve schwang weg vom männlich harten, zugreifenden Yang zum wei chen fließenden Yin, um einmal die Polaritäten des chinesischen Taois mus anzuwenden. Brahms’ Scheu, seine Gefühle ungeniert zu zeigen, tritt hier mei stens in den Hintergrund, und ihre Wohlgelauntheit könnte diese Musik der Welt der Serenade annähern, wür den nicht zwei Gegenkräfte wirksam. Zum einen wenden sich ganze Par tien ins ernsthafte Aufbegehren oder ins Pathos der Nachdenklichkeit, wie die ganze Durchführung des Kopf satzes, die sich mit manchmal derber Leidenschaft des Hauptthemas an nimmt, oder — paradoxerweise — der ganze langsame Satz, der Schatten in die sonstige Helle wirft: ein schwer mütiges, mitunter vergrübeltes Ada gio non troppo von norddeutsch her bem Geblüt. Das zweite Element, das Distanz zum Serenadengeist schafft, ist die gründliche kompositorische Durcharbeitung. Kein motivischer Einfall bleibt ungenutzt, keine noch so nebensächliche Phrase ohne kon struktive Absicht. Wer würde, wenn er das Werk nicht gut kennt, ahnen, daß schon der allererste Takt mit den drei Noten d - cis - d (= Grundton - Leitton — Grundton) in den Celli und Kontrabässen die motivische Urzelle der ganzen Symphonie proklamiert, den Grundbaustein für viele tragende Themen in allen vier Sätzen. „Man gewahrt den Variationstechniker Brahms: er schreibt eine viersätzige Symphonie über ein Grundintervall“ (Karl Schumann). Wenn bei der Interpretation die diversen Ecken und Kanten nicht zurückgeschliffen wer den, ist dies gewiß im Sinne des Komponisten, der das fast fertige Werk seinem Verleger Simrock als „liebliches Ungeheuer“ ankündigte.