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2. Beilage zu Nr. 12 des Sonnabend, 16. Januar 1909. Heimkehr. Novelle von Margarete Gräfin Bünau. 9 (Fortsetzung zu Nr. 9.) Seine Hilflosigkeit rührte sie. Sie hielt ihm die Hand hin — diese große, unschöne Hand, deren An blick Mary so abstieß. „Gut — ich bleibe — bis du mich nicht mehr brauchst. Um deinet- und Marys willen muß ich freilich wünschen, daß das nicht mehr lange dauert." Ihr Ton sollte heiter sein, klang aber nur ge zwungen. Er murmelte etwas vor sich hin — ob das Zu stimmung oder Widerspruch bedeutete, ließ sich nicht erraten. Aber er drückte ihr fest die Hand. Seine Augen schimmerten feucht. Sie legte ihre Arbeit sorgfältig zusammen. „Reiten wir morgen früh aufs Feld?" fragte er nach einer kleinen Pause. Ihr Gesicht wurde Heller. „Ja, gern, und Harry kann uns auf seinem Pony begleiten, das wollte er schon längst . . . Wenn nur erst Bubi reiten dürfte! Ja — Bubi — das wird einmal ein ganzer Mann." Sie strich sich über die Lider, die von heimlich vergossenen Tränen brannten: „Ich werd's wohl nie erleben! Man spricht so viel von Muttersorgen und -leid — aber die Qual, die ein einsamer Mensch, wie ich es bin, durchmacht, der sein ganzes Herz an solch fremdes Kind hängt und doch kein Anrecht daran hat, nie haben darf — dem über kurz oder lang alles wieder entrissen wird . . . selbst die Erinnerung muß ausgelöscht sein, das Kind darf einen nicht einmal lieb behalten . . . wie weh das tut; wie furchtbar weh — nein, daran denkt niemand . . ." „Elena!" Buchwalds Stimme klang ergriffen. „Was wärst du für eine prächtige Frau und Mutter geworden!" In seinen Augen zuckte etwas auf. Sie sah es — und erschrak. „Gute Nacht, Arnold, ich muß gehen. Bubi wird oft um diese Zeit wach und will Wasser trinken." Buchwald nickte ihr zu. Er blieb am Tisch stehen. Der hilflos bittende Ausdruck verlieh seinen männ lichen Zügen etwas Kindliches, was sie lebhaft an Bubi erinnerte. Großer Gott, liebte sie das Kind etwa so heiß, weil es seinem Vater glich ... Dann — ja dann war es doch besser, sie riß sich von hier los — und wenn ihr das auch das Herz brach. Mit langsamen, müden Schritten ging sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Bubi schlief fest. Sein lockiges Haar fiel tief in die heiße Stirn. Die Händchen lagen geballt auf der Decke. Sie sank vor dem Bettchen in die Knie und drückte den Kopf in seine Kissen. III. Die Nachtlampe brannte unter einer blaßgrünen Glocke. Ihr matter Schimmer erhellte das Zimmer etwas. Die Bäume rauschten in dem Wind, der kurz aufstöhneüd um das Haus fuhr. Der Mond malte die schwankenden Schatten der Zweige auf das blanke Parkett... bald sah es aus, als ob verlangend geöffnete Arme nach etwas haschten, bald erhoben sich drohende Finger. . . Mary saß aufrecht in ihrem Bett. Im Hause war alles so still, daß sie die Uhren gehen hörte — unten au der Diele die große Standuhr mit den schweren Ge wichten, langsam, unerbittlich wie das Schicksal selber .. in ihrem Salon die kleine Rokokouhr, atemlos, über hastet wie ihr eigener Puls- und Herzschlag . . . Auch draußen vernahm sie jeden Laut: das leise Zusammen schlagen der Aste, wenn ein aufgescheuchter Nachtvoge hindurchstrich — das wimmernde Miauen einer Katze auf dem Dache — das Klirren der Ketten und tiefe Schnaufen der Pferde in den Ställen . . . Nur die friedlichen Atemzüge ihrer Kinder — ihres Mannes, die hörte sie nicht. Sie blieb vereinsamt — ausgestoßen in ihrem eigenen Heim. Mary verschränkte die Arme unter dem Kopf — sie versuchte still zu liegen mit geschlossenen Augen, gedankenlos, damit der Schlaf käme. Umsonst . . . Sie mußte sich die vergangenen Wochen seit ihrer Heim kehr zurückrusen, ob sie wollte oder nicht. Viel Be merkenswertes brachten die freilich nicht. Eintönige Tage — gleichmäßig wie fallende Regentropfen, die der Boden aufsaugt, ohne daß eine Spur davon zu rückbleibt. Das Leben einer Gefangenen — einer Fremden führte sie. Die Kinder blieben bei ihr, so lange die Schokolade reichte, mit deren Hilfe sie die kleinen Herzen erobern wollte — länger nicht. Mit allen Bitten und Fragen wandten sie sich nach wie vor an Elena: „Tante Elena, darf ich das tun? Tante Elena, bitte, mach mir dies . . ." So ging's den ganzen Tag. Kam wirklich eins der Kinder einmal mit einem Anliegen zur Mutter, so zog das gleich eine Mahnun vom Vater oder der Tante nach sich: „Du sollst di Mama nicht quälen." Quälen! Lieber Gott, das war ja gerade die Qua daß sie ihren Kindern nicht nötig sein durfte! Zuer kämpfte sie mit aufwallender Heftigkeit um ihre Rechte Aber die schonende Nachsicht, mit der ihr Mann und Elena ihren oft übertriebenen Borwürfen begegneten brachen ihren Widerstand. So duldsam ist man nur gegen — eine Unzurechnungsfähige! Das lähmte sie. Ihren Mann sah sie fast nie ohne Zeugen. Seine Scheu, mit ihr allein zu bleiben, nahm nicht ab, son dern eher zu. Nur einmal, als sie zufällig allein in der Dämmerung an ihrem Fenster stand, hatte er sie in eine Arme gerissen und mit Küssen halb erstickt — wie einst. Erschrocken wehrte sie ihn zurück. Ein ihr selbst unerklärlicher Widerwille stieß sie ab. Mit Grauen dachte sie an eine eheliche Gemeinschaft, bei der jedes geistige Verstehen ausgeschlossen blieb. Er entschuldigte sich denn auch wie vor einer Fremden. Immer höher wuchs die Mauer zwischen ihnen auf . . . Je weniger ihr Leben hier sie befriedigte, um so mehr sehnte sie sich nach Sachsenhausen zurück. In Wiesenthal war sie überflüssig geworden, ganz ent behrlich — dort hatte man sie geliebt, verstanden . . . Bei Tage peinigte die Sehnsucht sie weniger, sie itt dann mehr dumpf, aber die langen schlaflosen Nächte, die sie horchend verbrachte, die waren seltsam . .. Stimmen riefen und lockten, oder vielmehr eine Stimme rief, bald leise, bald laut, erst — eindringlich — bittend — befehlend: „Komm zurück — komm wieder zu mir zurück. . ." Sie hielt es nicht mehr im Bett aus. Wie eine Schlafwandelnde mit kleinen, vorsichtigen Schritten ging sie bis ans Fenster, das sie aufstieß. Der Mond lag voll auf dem Grasplatz, über den Rasen zog sich eine dünne weißglitzernde Eisschicht. Die Georginen ließen ihre erfrorenen schwärzlichen Köpfe hängen. Wie feine graue Federn hob sich das kahle Geäst der Bäume von dem mattgetönten Himmel ab. Millionen Sterne funkelten. Wenn sie halb die Augen schloß, stachen sie mit langen goldenen Lanzen nach ihr. Die Luft strich eisig über ihren nackten Hals — sie achtete nicht darauf, sondern sog die schauernde Kühle mit durstigen Lippen wie einen erfrischenden Trank ein . . . Welch unermeßlicher Sternenhimmel! Wie weit — wie unendlich — wie unbegrenzt . . . und hier im Haus, wie eng war da alles, wie abgeschlossen — kleinlich. Kein höheres Streben, kein starker Wille, der sich bis zu den Sternen aufschwang und seinen Nebenmenschen Gesetze vorschrieb — kein zartes, see lisches Verstehen — kein künstlerisches Genießen . . . Warum marterte sie sich in dieser Enge ab? Mochten die Kinder an ihrer robusten Pflegerin hängen, die mit derben Händen sie zu nützlichen Men schen erzog. Mochte ihr Mann sich dieser auch zu- wenoen . . . was hatte sie, die einst seine Frau gewesen war, noch mit ihm gemein? Erriet — beherrschte er auch nur einen ihrer Ge danken . . . nichts — nichts . . . Seit er seinen Sinnen ihr gegeirüber Zügel anlegen mußte, war die Gemein schaft zwischen ihnen zerbrochen, das Band zerrissen .. Was sollte sie noch hier? „Komm zu mir . . ." Ganz deutlich hörbar — laut und gebietend rief das die Stimme von weit — weit her: „Mir gehörst du — bei mir bist du gesundet — bist eine andere geworden . . . Was jenem gehörte, ist längst abgestorben — mir gehörst du . . . komm wieder zu mir..." Wie hell die Sterne strahlten! Ein leuchtend silbernes Band zog sich um Erde und Himmel — ein Sternengürtel . . . Sonnen mit ihren Systemen — Planeten — Fixsterne — untergegangene — neu entstehende Weltkörper . . . Und in diesem unermeßlichen Weltraum gab es eine Seele, die von Uranfängen her sich mit der ihren vereinen wollte! Und all ihr eigenes Irren — Streben — Kranken — Gesunden war nur der lange Weg ge wesen, den sie durchwandern mußte — ehe sie sich mit dieser andern Seele vereinen durfte . . . „Ich komme . . ." Sie schloß das leise klirrende Fenster. Im Osten dämmerte ein blaßrosa Streifen — Die Sterne verblaßten wie müde Augen . . . Auf dem Hofe krähte der erste Hahn. Vollkommen besonnen und ruhig kleidete Mary sich an, packte Geld und die nötigsten Toilettesachen in ihre Reisetasche. Sollte sie ohne Abschied fortgehen? Nein. Sie riß ein Blatt Papier aus ihrem Notizbuch un schrieb mit fester Hand die wenigen Worte hin: „Ich kehre in mein Asyl zurück. Mary." Den Zettel legte sie auf den Schreibtisch in ihrem Wohnzimmer und ging leise die Treppe herunter. Die Stufen knarrten ein wenig. Sie erschrak und blie einige Sekunden unruhig horchend stehen. Nichts rührte sich. Im Hause schlief noch alles fest . . . Der Schlüssel in der Haustür drehte sich langsam in dem schweren Schloß . . . Leise fiel die Tür hinter ihr zu . . . „Eine Dame wünscht den Herrn Professor zu sprechen." »Jetzt ist keine Sprechstunde." Professor Hammer wandte sich rasch nach der Schwester um: „Ich kann jetzt niemand sehen. Wenn die Dame einen Kranken anmelden will, muß sie das im Bureau angeben und morgen zur richtigen Zeit wiederkommen." Die Schwester trat leise näher. „Die Dame wünscht selber ihre Aufnahme, Herr Professor — es ist Frau von Buckwald." Erwin Hammer sah der Schwester mit einem olchen Ausdruck des Schreckens ins Gesicht, daß diese, an seine unerschütterliche Ruhe gewöhnt, förmlich zurückprallte. „Herr Professor, die Dame ist ganz ruhig und ver- tändig — ja heiter. Vielleicht will sie doch einen andern anmelden und denkt, für sie, als eine alte Patientin, wird eine Ausnahme gemacht . . ." „Ja, so wird's wohl sein." Professor Hammer schob die Bücher und Manuskripte auf seinem Schreibtisch zusammen. Das japanische Papiermesser, das er zwischen »en Fingern hielt, klirrte scharf gegen die Glasglocke einer Lampe, als er die elektrische Schraube drehte. Lin lang nachzitternder Klang surrte durch das stille Zimmer. „Ich lasse bitten . . ." Die Schwester verschwand. (Schluß folgt.) Hans v. Mar« es. Der Nachlaß in der Winterausstellung der Münchner Sezession.) Von vr. Georg Biermann. Unsere Zeit ist groß im Entdecken, besonders wenn es sich um vergangene Künstlergrößen handelt, die bei Lebzeiten den Ruhm nicht haben durften, der ihnen durch )en Beifall der erstaunten Nachlebenden in so reichem Maße gespendet wird. Die Jahrhundertausstellung hat den Anfang gemacht, soweit es sich um Endeckungen auf dem Gebiete deutscher Kunst handelt. Vieles von dem, was die sensations lüsterne Kunstkritik damals in neuer blanker Münze voll wertig geprägt hat, erwies sich sehr bald als Mittelgut, nach dem erst der Entdeckerrausch ein wenig nachgelassen. Überschätzung ist immer die Gefahr, die gerade Entdecker taten auf künstlerischem Gebiete mit sich führen und kein Zweifel daran: in diesen Tagen, wo auf die Ini tiative von Adolf Hildebrand nun fast der gesamte Nach laß Hans v. Marses (bis auf die Fresken der zoologischen Station in Neapel) in der Sezession vereinigt ist, wird gerade dieser Künstler so ungeheuer überschätzt, daß ich heute schon auf den Rückschlag gespannt bin. Um es gleich vorweg zu nehmen, die Ausstellung ist eines der interessantesten Ereignisse, die der Kirnst Histo riker erleben konnte, daß aber der moderne Kunstfreund — und ich meine sogar den sehr gebildeten — irgend ein tiefergreifendes inneres künstlerisches Erleben damit verbinden könnte, bestreite ich durchaus. Hans v. Marses ist eben in diesem Moment Mode, weil es einige gar gescheite Leute wie Hr. Julius Meier-Gräfe so gewollt haben und Adolfv.HildebrandseinemJugendfreundediesewohlverdiente Ehrung aus innerer Überzeugung heraus bereitet hat. Daß dagegen diese Ausstellung eine absolute Notwendig keit war oder gar den Effekt haben könnte, kunstgeschicht lich die Stellung Hans v. Marses nach irgendeiner Seite hin zu verschieben, will mir nicht in den Sinn. Das letztere vor allem offen auszusprechen, erscheint mir doppelt notwendig im Angesicht der allgemeinen Marses- Begeisterung, wie sie in München zurzeit geschauspielert wird. Im Gegenteil, jedem Kenner deutscher und euro päischer Kunstgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts muß gerade diese Veranstaltung den Blick öffnen, um ihn vor zu hoher Einschätzung zu schützen. Ich möchte fast sagen, Marses verliert durch diese Ver anstaltung den letzten Glorienschein, den einseitige Bewunderer immer wieder um den Namen zu weben gewußt haben. Wenn überhaupt eine der großen Künstlerpersönlich keiten dieser Epoche, der Marses entstammt, wie Feuerbach, Böcklin, Leibl, vornehmlich auch Wilhelm v. Diez, historisch wirklich wegzudenken wäre, ohne daß dadurch die große Entwickelungslinie der Kunstgeschichte irgendwie beein trächtigt würde, so ist es Hans v. Marses. Denn dazu ist er in der Zeit, wo er sich überhaupt über das hohe künstlerische Niveau, das sonst in den Jahren in München bereits erreicht war, mit seiner Kunst erhebt oder besser vielleicht, mit seiner Kunst zu erheben versucht hat, viel zu sehr Anfang, viel zu sehr Unfruchtbarkeit, die, trotz einiger Nachfahrer und Schüler, keine Zukunft gebären konnte. Ich denke da in erster Linie an die letzte Periode seines Lebens, jene Jahre des römischen Aufenthaltes, der künstlerisch nichts als Fragmente hinterlassen hat. Sicher wird dieser Ausspruch bei gewissen Leuten Entsetzen erregen. Aber ich mache mich anheischig, ihm zu beweisen einfach durch die Tatsache, daß es eine Berstandeskunst nicht gibt, daß jedes wirklich Große und Schöpferische von innen herauskommt, sich aber nicht nach mathematischen Formeln zurechtlegen läßt. Und Mathematik ist die Malerei eines Marses gewesen, gerade in der letzten Periode, der einzigen, wo man überhaupt von eigenen großen Ansätzen, die über die allgemeine Linie hinausgehen, sprechen kann, wo er Farbschicht auf Farbschicht setzte, immer wieder seine Bilder neu malte, ohne nur eines je zu vollenden. Darin gipfelt denn auch meinem Gefühl nach das Problem des Künstlers Marses, in dem sich zugleich ein Teil seiner Tragik wiederfindet. Er war groß im Wollen und schwach rm Vollbringen. Die Aufgaben, denen er Herr werden wollte, waren für Größere zu schwer, sie waren vielleicht sogar überhaupt nicht mehr künstlerisch, weil sie zu sehr Rechcnexempel scheinen. Vor allem, sie waren bildnerisch, während Marses, der als Plastiker vielleicht ebenso bedeutend wie Hildebrand hätte werden können, sie in malerischer Form zu lösen bemüht war. Angesichts seines Nachlasses werde ich das Gefühl nicht los, daß Marses an Italien eigentlich zugrunde ge gangen ist, an demfelben Italien, da- einen Feuerbach, auch Böcklin in den Vollbesitz ihres Könnens, zum klaren Bewußtsein ihrer Sehnsucht gebracht hat. Die Entwickelung gibt dem recht. In seinen Anfängen ist Hans v. Marses mindestens ebenso stark wie jedes große Talent seiner Zeit. Bon seiner Berliner Lehrzeit darf man dabei überhaupt absehen.