eine Art Anthologie gemacht wer den könnte, würde man erst so recht zum Genüsse des Werkes gelan gen." Selbst einer der schärfsten Kritiker Bruckners, Max Kalbeck, kommt nicht umhin, das Werk mit einem gewissen Respekt zu behandeln: „Anton Bruckners neue Symphonie in Es-Dur (...) ist das Werk eines Kindes mit Riesenkräften. Ein jun ger Herkules, der in der Wiege zwei Schlangen erdrosselt, würde vielleicht in ähnlicher Weise Musik machen. (...) In den Gedanken des Werkes herrscht die Unordnung ei nes Gelehrtenzimmers, wo alles über- und durcheinander liegt und nur der Herr des Hauses sich zur Not zurecht tastet. Gerade die dürf tigsten und alltäglichsten Einfälle werden bis ins Unendliche fort gesponnen und bis zum Überdruß behandelt, während das wirklich Originelle und Wertvolle unschein bar beiseite geschoben und außer acht gelassen wird." Mehr noch als das 1. Thema der 3. ist das der 4. Sinfonie zu einem Inbegriff für Bruckners Instrumental melos geworden: über einem rau nenden Es-Dur-Akkordtremolo der Streicher erhebt sich eine solistische Horn-Kantilene, die elementare In tervalle durchschreitet und in ein Wechselspiel zwischen Holz- und Blechbläsern (1. Horn) mündet. Doch die Faszination dieser Musik geht nicht allein von solch lapida ren Ereignissen, eingebettet in eine ruhevolle Atmosphäre, aus. Lapida- rität verschmilzt hier mit außeror dentlichen kompositionstechni schem Raffinement, dessen „sprin gender Punkt" in den Intervallver hältnissen und ihrer Ausbreitung liegt. Das heißt, ein scheinbar so ausgewogenes, in sich ruhendes Thema erlangt seine kompositori sche Attraktivität erst durch eine raffiniert gewahrte Balance zwi schen auseinanderstehenden Ele menten, hier vornehmlich zwischen denen der Intervallik und der Har monik ... Zu den hervorstechendsten Merk malen der „Vierten" gehört, daß alle, auch die Mittelsätze, sonati- schen Gestaltungsprinzipien zu fol gen scheinen ... Es gehört nun zu den weiteren Eigenheiten der 4. Sinfonie (die freilich nicht auf sie allein beschränkt sind), daß die baukastenartig-kaleidoskopische Themen- und Formbildung insbeson dere durch eine geschlossen wirken de, abrundend-ausgleichende Klanglichkeit aufgefangen wird. Das Bild der „Unordnung eines Ge lehrtenzimmers", zu dem Kalbeck wohl vor allem von dieser Themen- und Formbildung angeregt wurde, vermag solche schlichtenden Ge sten jedoch nicht ernsthaft zu korri gieren, im Gegenteil. Sie wurden Bruckner als eine Maske der Bie derkeit ausgelegt, hinter der sich ein unverbesserlicher Hang zur Anar chie verberge. M.H.