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ZUR EINFÜHRUNG Spieldauer: ca. 55 Minuten Stephan Kohler „Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen..." Der Naturbegriff in der Musik war zu Beginn des 19. Jahrhun derts mit Beethovens 6. Sinfonie, der „Pastorale", so schien es, für eine Zeitlang verbindlich formu liert: Mensch und Natur einte ein pantheistisch-ideales Einverständ nis, zu dessen klanglichem Medi um eine Musik nicht der „Malerei", sondern der „Empfindung" auser sehen war - galt ihrem Schöpfer doch „Natur" als göttliche Kompo nente der menschlichen Existenz, als Zone der Wahrheit, wo in erle senen Momenten Mensch und Gottheit ihre ursprüngliche We sensverwandtschaft erneut bestä tigt fühlen können. Franz Liszt, der Protagonist einer „Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verbin dung mit der Dichtkunst" (wie es in einem Brief an Agnes Street- Klindworth heißt), ersetzte dann Beethovens idealistische Postulate durch einen literarisch vermittelten Naturbegriff, für den Victor Hugos Weltschmerz-Gedicht „Ce qu'on entend sur la montagne" die Text vorlage lieferte. In Liszts „Berg-Sin fonie" sind Menschheit und Natur antagonistisch eingesetzte Gegner; es ist der romantische Konflikt zwi schen Ideal und Wirklichkeit, der in der Brust des Künstlers ausgetra gen und am Ende nur durch Zu flucht zum Gebet harmonisiert wird. Die religiöse Deutung des Naturbegriffs, bei Beethoven noch Ausdruck für die Gottnähe des Menschen, weicht der Idee einer metaphysischen „Erlösung", die die verlorene Einheit des menschli chen Geschöpfs mit der Natur aufs neue stiften soll. Dieses Integrationsbedürfnis war für Richard Strauss, den Nietz sche-Jünger, nicht mehr gegeben; sein emanzipatorisches Weltbild ließ nur einen prometheischen, entgötterten Naturbegriff zu, des sen weltanschauliche Prämissen Strauss mit vielen Zeitgenossen, so auch mit Gustav Mahler, teilte, der in seiner 3. Sinfonie dem heidni schen Pan mit zahlreichen (später getilgten) Nietzsche-Zitaten hul digte - zur selben Zeit, als Strauss „Also sprach Zarathustra", eine „Tondichtung frei nach Nietzsche", schrieb. Zwei Jahre vorher, 1894, war in Weimar Strauss' Bühnen erstling „Guntram" uraufgeführt worden, dessen Titelheld der junge Dichterkomponist die bekenntnis- haften Worte in den Mund legte: „Mein Leben bestimmt/Meines Geistes Gesetz;/Mein Gott spricht/Durch mich selbst nur zu mir!" Diese Sätze sind ohne das geistige Vorbild Nietzsches nicht denkbar. Und anders als Mahler, der Nietzsche später abschwor, sollte Strauss dem Einsiedler von Sils-Maria zeitlebens die Treue hal ten. Nichts beweist dies überzeu gender als das weltanschauliche Programm, das Strauss' letzter gro ßer Tondichtung „Eine Alpen sinfonie" ursprünglich unterlegt war und das der Komponist des „Rosenkavalier" im Mai 1911 unter