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»fälligen Versetzung des Assessors abermals ein Glück ei n eingescharrt. Nachdem nach dieser Richtung hin die Hoffnungs- flämmchen verglüht waren, kam am Horizont der Schwestern ein anderes Lichtlein auf: „Wenn unser Kind wird kommen," sagten sie und nickten einander verständnisinnig zu. Das Kind war nämlich eine viel jüngere Schwester, aus zweiter Ehe, bei deren Geburt die Mutter gestorben war, nachdem der Vater ihr einige Wochen vorangegangen war. Dieses Jüngste war viel größer, viel schöner und viel klüger, als Mine und Lore es je gewesen waren. Ein frisches, farbenfrohes Leben wäre aufgeblüht in dem kleinen Heim, wenn nicht die Macht der Verhält nisse auf dem Hause gelastet hätte, in dem die Pan- und Kartoffeln verkauft wurden. Es reichte, nachdem das kleine Kapital an die Erziehung „unseres Kindes" drangegeben war, gerade noch für Mine und Lore. Helene mußte auf eigenen Füßen stehen, auf schmalen, feinen Füßen, deren feste Stiefelchen sich zwischen den breitgetretenen Promenadenschuhen des Schwestern paares, wenn sie am Morgen vor der Tür standen, ausnahmen, wie zwei schlanke Eidechsen zwischen Padden „Unser Kind" war der Stolz der Schwestern; sie verstand sich auf's Repräsentieren, Musizieren, Kon- versieren; sie bekam auch sofort eine passende Stelle in vornehmem Hause, die sie in einiger Zeit mit der bei einem älteren russischen Ehepaar vertauschte. In all den Jahren war Helene nur zweimal zu Hause gewesen. Das eine Mal mit einer reinen heißen Liebe im jungen Herzen, die ihr die Dinge um sie herum gleichsam verklärt. Das Erwachen aus dem goldenen Traum hatte sie in der Fremde durchmachen müssen, die ihr seitdem mehr denn je „die Fremde" geworden war. Zum zweiten Male war sie gekommen, von schwerer Krankheit erstanden; der Genesende aber will ja nichts Weiler, als gesund werden, will die Wolken am Himmel ziehen sehen und die Tauben um den Kirch turm flattern, still dasitzen, lächeln und den lieben Herr gott fühlen, ohne daß man nach ihm tastet. Als es nun hieß: „Du mußt wieder hinaus; dein Kranksein hat über die Gebühr gekostet," fühlte Helene ein tief schmerzliches Sehnen in der Brust: O, nur ein eigenes Heim! Und dieses Sehnen setzte sich fest und wurde mächtiger von Jahr zu Jahr. Helene pflegte die russische Dame mit Pflicht, aber ohne Liebe; sie teilte ihren Luxus, ihre Reisen, den reich besetzten Tisch; gewöhnte sich an den Luxus und den reich besetzten Tisch, nicht aber an ihre Abhängigkeit, an die gelegentlichen Launen ihrer Brotgeber, an den Zwang, immerfort liebens würdig zu sein! Oft stand es direkt in, immer aber zwischen den Zeilen, wenn Helene an die Schwestern schrieb: „O, könnte ich bei Euch leben, zu Hause; f ü r Euch! Die Stütze Eurer alten Tage sein!" Trotzdem blieb sie bei dem alten Herrn in treulichster Pflicht erfüllung, obschon die Gattin ihm gestorben war. Als längere Zeit darauf — man war gerade in Amalfi — ein Herzschlag auch seinem Leben ein Ende machte, fand sich in seinem Testamente ein Vermächtnis für Helene. Kein bedeutendes Kapital, in seinen Zinsen aber ausreichend, um ihr das „zu Hause" zu ermöglichen. Jahrelang hatten Mine und Lore sich in die Augen geschaut, hatten mit den Teetassen gestoßen: „Wenn unser Kind wird kommen!" Jetzt hieß es: „Unser Kind kommt!" Die erste, die diese Kunde vernahm, war Dame Niesewand, die Aufwärterin: „Ich denke immer, das wird nichts Gutes abgeben," sagte die Niese wand und schob die Unterlippe vor. Auch der alte Doktor Rebenstock, der pflichtgetreu nach den Schwestern sehen kam und sich nun vor einer längeren Reise ver abschiedete, machte bei der Kunde sein gewisses komisches Gesicht: „Na, laßt's euch gut gehen, Kinder!" sagte der alte Herr, dem Mine und Lore von deren ver storbenen Vater gleichsam vermacht worden waren. Das Kind kam. Auch für Leute, die nicht direkt von Amalfi ab gereist waren, hätte das pommersche Städtchen einen nicht so ganz ausfüllenden Eindruck gemacht: Das war der Bahnhof? So klein? Und das — das waren die Schwestern! So klein?! Gab es noch derlei Hütchen? Aber das war ja egal! Helene war zu Hause, und sie grüßte alles! Jetzt die Nebenstraße, das holprige Pflaster, nun ging es über den Markt, und jetzt das Haus — ihr Haus! Sie stieg die Treppe empor mit einem Gefühl, als müßte sie die Arme heben, von denen die Ketten gefallen waren. Was fragte sie nach dem etwas nervösen Trippeln der Schwestern, nach dem kleinen Kamp um kleine Dinge, die die Niesewand zu besorge: unterlassen hatte? Nach den angstvollen Blicken zwischen Lore und Mine wegen der ungewohnten Aufsässigkeit dieser Niesewand? Nach den immer erneuten Be grüßungsküssen, den steten Fragen: „Wird es dir auch gefallen bei uns? Wird dir auch schmecken, was wir gekocht haben?" Der Augenblick würde ja kommen wo in abendlicher Befreiung die Türe sich schloß zum Alleinsein. Wo aber war diese Türe? Sie würde sich nie mehr schließen, denn die Schwestern hatten sie einfach herausnehmen lassen Der dunkle Alkoven, in dem Helene schlief, war mit dem Schlafzimmer der Schwestern verbunden worden. Als sie^am andern Tage die Augen aufschlug vom urzen Morgenschlummer ^nach langer, durchwachter Nacht, insofern Lore zu schnarchen pflegte und Mine ein wenig „paffte", standen beide Schwestern an dem chmalen Bettlein des Kindes, liebend über sie gebeugt. Sie hatten sogenannte „Pariser" an den Füßen, die eine trug eine gelbe, die andere eine lila Nachtjacke, beider Zöpfchen waren geringelt. Ehedem hatte sich Helene über das Kostüm der Schwestern belustigt, etzt tat es ihr wehe, ebenso wie die'Wachstuchdecke auf rem Frühstückstisch und die ausgeschlagenen Tassen. Als Lore den Teelöffel im Munde umdrehte, hätte )elene beinahe losgeweint. Das waren die Nerven, natürlich, das würde sich geben, mußte sich geben. Nachdem die üblichen Bormittagsarbeiten erledigt waren, wurde Helene der für sie bereitete Fensterplatz zugewiesen: „Jetzt gibt's was zu sehen, Kindchen, etzt gehen die Leute aus. Dort kommt er, dort kommt er —Dunser Majorchen. Er sieht rauf, er nickt." „Wer ist das Majorchen?" „Ein munteres Einbein; immer noch 'n bißchen verliebt. Mine?!" „Was denn?" „Die Geheimrätin mit ihrer Tochter — sieh! sieh! Und — hab' ich's mir nicht gedacht, aus seinem Hause tritt der Assessor — an der Ecke müssen sie Zusammen treffen." „Aber bitte," sagte Helene ein wenig verschüchtert, „wie seht ihr denn das alles?" „Kindchen, liebes, wozu sind denn die Fenster spiegel da?" Helene sah gedankenvoll vor sich nieder und legte die schlanken weißen Hände aneinander: „Wenn ich recht reich wäre," sagte sie, „würde ich vielleicht damit anfangen, allen Leuten die Fensterspiegel einzuschlagen." „Aber Kindchen, das harmlose Freudchen, wo doch schon so wenig Vergnügen in der Welt ist!" „Verzeiht, liebe Schwestern, aber ich möchte wohl ein wenig an die Luft gehen." „Natürlich, natürlich! Wir hatten uns gedacht, daß wir zusammen zum ersten Male ausgehen sollten, aber wie es dir paßt. Du wirst doch den Reisehut nicht aufsetzen? Wenn man sich zum ersten Male zeigt, muß man immer die besten Sachen anziehen. Wenn dich einer anreden sollte, nimm Deine sanfteste Sprache an und deine lieblichste Miene." Dicht aneinander gedrückt sahen Mine und Lore Helene nach: „Jetzt hat der Apotheker sie gesehen, — unser Kind ist doch sehr hübsch!" „Bißchen erhaben!" klang es mit leisem Seufzer. Als Helene zurückkehrte, war ihre Stirn in Falten. „Das war geradezu furchtbar!" sagte sie, „angestarrt haben mich die Leute!" „Na, ob!" sagte Mine, stolz wie ein Sack voll Spanier. Der Abend des Tages brachte einen harten Schlag für die Schwestern: Die Niesewand, die an eine Behandlung von oben herab nicht gewöhnt war, kündigte; Helenes wegen. Es bedurfte am anderen Morgen viel guter Worte, unter Beifügung eines noch guten Rockes, um die Niesewand zum Bleiben zu bewegen, „trotzdem sie sich, seitdem die „Neue" da war, vorkäme wie eine weggestellte Katz." Vergeblich bemühte sich Helene im Laufe der nächsten Tage, den Schwestern Bilder vorzuführen von außerhalb ihres Heimatsortes. Sie nahmen Be schreibungen von Landschaften, Antike und Kunst im Grunde ihrer Seele als Beleidigungen für Helmberg hin, und erst wenn sie wieder in ihrem Fahrwasser paddelten, fühlten sie sich wie von etwas befreit! „Hälft du es für möglich, Lore, daß die junge Frau von drüben schon wieder reine Gardinen aufbringt?" Lore hätte es nicht für möglich gehalten; und darauf Mine im Hinweis auf den Fleischer gerade- über: „Kalb geschlachtet! Die Keule nehmen natürlich „Suprindents", der Rücken wird wohl zum Amts richter wandern, wegen der großen F6te." „Aber, liebe Schwestern, ihr seid ja wie die Kanni balen, die schon vorher das Stück bezeichnen, was sie essen werden bei ihrem Opfer." Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe Mine „begriff", dann sagte sie bitter: „Wir haben unser Lebtag schon so manches erfahren. Mit Menschenfressern verglichen zu werden, ist uns aber noch nicht passiert!" Nachdem verschiedene Gefreundete der Schwestern eine Gelegenheit ausgegraben hatten, um einmal bei Brüggemanns vorzusprechen, kam „sie, die Super- intendentin" selbst. Sie bat die Schwestern zu einer Tasse Tee mit Aufschnitt und fügte freundlich hinzu, daß Helenes Mitkommen, obschon sie ihr noch keinen Antrittsbesuch gemacht, als selbstredend zu betrachten sei. Sehr freundlich, sehr höflich, aber doch entschieden wurde die Einladung von Helene abgelehnt. Was sie den Schwestern damit antat, wußte sie noch nicht; jedenfalls aber half sie ihnen bei der Toilette, mit der etwas gewaltsamen Liebenswürdigkeit der Leute, die etwas gut zu machen haben. Der überwinternde Nordpolfahrer hat neben Nacht und Kälte eines zu überstehen, das ihm zu Zeiten schwerer dünkt als diese; es ist dies die Notwendigkeit des steten Beisammenseins mit den Gefährten, sei es in der Koje, sei es im Zelt, sei es im Schlafsack — er ist niemals allein, er kann sich nicht einmal allein hinaus in die Jagdgründe begeben. über Helene kam es wie eine Entlastung, als die Schwestern gegangen waren; sie konnte die gezwungene Freundlichkeit, die über alle bisherige Pein nach dieser Richtung hin ging, kaum mehr ertragen. Mines und Lores bemütternde Sorgfult hatte etwas Bedrückendes; das stete auf Pürsche sein nach dem Ausdruck der Un zufriedenheit in Helenes Gesicht ging dieser auf die Nerven. Mancherlei Arbeiten hatte ihnen Helene ab genommen, kleine Plänkeleien und Sticheleien fielen, wenn etwas außerhalb der sonstigen Art geschah. Helene ging durch die drei Zimmer, machte die Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Als sie die etwas stickige Zimmerluft wieder umfing, stieß sie einen Seufzer aus, der beinahe ein Schrei war, und vor dem sie innerlich erschrak. S o faßte sie die Pflichten auf? So das Leben für die alternden Schwestern! Sie würde sich gewöhnen, weil sie sich gewöhnen mußte — natürlich — aber bis es dahin kam! Was war aus ihr geworden, wenn die Freundinnen, die Kaffees, der Gruß des Majorchens und das, was der Nebenmann tat und nicht tat, sie ausfüllten? Als die Schwestern von dem Kränzchen bei „Suprin dents" zurück über den Markt gingen, redeten sie auch nicht mehr in der halblauten Art von dem Schinken, der zu scharf im Salz gewesen war, und daß es bei der „Neuen" mit dem Aufwarten doch noch sehr ge hapert hatte. So ein recht flottes Schwatzen wollte bei Brüggemanns überhaupt nicht mehr aufkommen, unter dem dumpfen Druck, daß jemand darüber stand. Auf den Fensterspiegel deuteten sie nur stumm, vom Fleischer ganz zu schweigen — wenn sie^von Helene sprachen, sagten sie nur „sie". Eines Vormittags aber ging es^urch die Wohnung mit dem alten Lorew- und Minen-Klang: „Da kommt Er — da kommt Er! Er—chen! Er hebt den Stock, Er sieht rauf! Neuen Rock hat Er an! Räum' ein bißchen auf, Mine!" Taps — taps ging es die Treppe herauf und hinein trat das Licht — nein, der Kronleuchter — in dem Leben der Schwestern: Der Doktor Rebenstock. Er war ein alter, längst verwitweter Herr, den nichts aus dem Durchschnitt heraushob, als der scharfe Blick der klaren Augen, den jeder sah, und der Zug von Resignation um den Mund, den die wenigsten sahen. Selbiger Doktor tat, wie er immer tat; er behielt den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, so daß er jeder der Schwestern nur einen Finger reichen konnte; worauf, nachdem selbiger Finger gedrückt war, Mine ihm den Stock und Lore ihm den Hut abnahm. Ohne Aufforderung setzte er sich auf das Sofa und zwar genau in dessen Mitte, so daß jeder der Arme auf einer Lehne ruhen konnte; so hatte er schon an die zwanzig Jahre bei seinen Besuchen gesessen. Nachdem die Schwestern den guten Kirschschnaps, den sie selbstbereiteten,hervorgeholthatten, kamderHöhe- punkt ihres Verkehrs mit dem alten Freunde. Das Erzählen und sich erzählen lassen, vor allem aber das „sich ausklagen". Nebenbei hatten sie außer dem Kirschschnaps noch etwas Neues vorzusetzen: Das Kind wurde hereingerufen. „Platz da, für den Schwan, Ihr Enten!" war das Denken des Doktors, als Helene zwischen den Schwestern erschien. Mit raschem Blick erfaßte er die hohe Gestalt, die gleitenden Bewegungen, den Schnitt der Augen, in denen doch so etwas Wunschloses lag. Der Doktor vergaß über dem prachtvollen Sitz des tailor-macks- Kleides sogar den Kirschschnaps zu loben, und als Mine von ihrem letzten Anfall berichtete, ließ ihn dieser An fall kühl: „Ja, ja," fiel Lore rasch ein, „der Kopf — der Kopf! Gestern riß es mir so im Hinterkopf!" Der Doktor streckte den Zeigefinger aus und zeigte in schnellender Bewegung nach dem Platz, an dem Helene saß: „Und wo reißt es der? Man vermißt wohl so manches in unserem Städtchen — wie?" Helene lachte: „Zuweilen wünschte ich, es käme ein Ozeandampfer auf blauen Wogen hergezogen." „Ozeandampfer — Wogen blau? Waren wohl in Neapel? Ich bin auch einmal in Neapel gewesen," worauf er rasch das Gläschen mit dem Kirschschnaps leerte, Mine flüchtig den einen und Lore noch flüch tiger den anderen Finger reichte und dann an Helene herantrat: „Her mit der Patsch! Vorläufig kommt der Ozeandampfer nicht — trotzdem nur immer mutig — mutig!" Leicht säuerlich blickten die Schwestern ihm nach; er war so anders gewesen heute, er vergaß auch noch einmal herauf zu grüßen. Dem alten Manne, den es ganz gleichgültig ließ, was hinter sämtlichen Weiber stirnen des Städtchens vorging, war plötzlich ein Fragen gekommen, was wohl hinter der schönen Stirn des jungen Geschöpfes da vorgehen mochte in dieser Um gebung? Anderen Tages kam er wieder, aber nur, um die drei Schwestern zu einer Besichtigung des neuen Krankenhauses einzuladen, welche Vergünstigung ein allgemeines Staunen erregte. Nicht umsonst hatte er bei dem Rundgang durch Konllrmations- Selckenke C. k. Ammsrmami, Juwelier Vallttrahe 12 Segräncket kelckes Kager In Juwelen unck Solcklckmuck femkprecker 1758. Zllberne kellecke und ^alelgerüle. Konilrmotlonr- Selckenlre 1S»4