ZUR EINFÜHRUNG gewollt (und vermutlich auch ohne Wissen ihrer Autoren) dem Tango Argentiniens tatsächlich viel näher als etwa Erwins „Ich küsse Ihre Hand, Madame". Die Entwicklung des Tangos in Ar gentinien hat zu einer Fülle von Spielarten geführt. Die Mißach tung und Geringschätzung, die die „gebildeten Stände" dem Tango als einer Kultur der Slums und billi gen Kneipen und Bordelle entge genbrachten (wieder eine Parallele zum Blues und zum Rebetiko), war nicht lange aufrechtzuerhalten. Diese Musik war einfach zu schön. Natürlich waren die Inhalte je nach Nutzerkreis verschieden. Es gibt also den Tango mit ausgespro chen elegantem und gesellschafts fähigem Text, aber parallel dazu auch immer den Tango, der seiner Frühform an Biß in nichts nach stand. Damit verbunden ist eine größere Vielseitigkeit im Instrumen tarium. In der Form von Komposi tionen für Singstimme und Klavier eroberte der Tango den bürgerli chen Salon. Die frühen tercetos, meist mit Violine, Gitarre und Flöte besetzt, wurden um neue Instru mente erweitert. An die Stelle der Flöte trat schon um 1900 das Ban donion, eine diatonische Knopf harmonika, in den Jahren um 1845 erstmals von Heinrich Band gebaut (auch die Schreibweise Bandoneon ist verbreitet). Später setzte man bis zu vier Bandonions ein. Aber auch solistisch-konzertan- te Tangos wurden für Bandonion geschrieben. Es ist so zum eigentli- tur, des Rebetiko, als die Türkei nach dem mißglückten Kleinasien- Feldzug der Griechen eine Million Menschen nach Griechenland de portierte.) Und jetzt wird die Entwicklung spannend, weil nämlich der Tango zum Abbild täglichen Lebens wird und in dieses Leben eingreifen will. Das nimmt nicht wunder, denn die ursprünglichen Träger des Tangos gehörten der Welt der Unterpri vilegierten und der Unterwelt an. Anders als der Blues, mit dem der Tango viele Gemeinsamkeiten hat, Die wird a b er nicht der Protest laut her ¬ ausgeschrien. Der „tango-canciön", der gesungene, aber nicht notwen digerweise getanzte Tango „schil dert Leben und Liebe in höchst pes simistischen, fatalistischen und oft pathologisch dramatischen Begrif fen". Das trifft natürlich nicht auf den rein instrumentalen „tango- milonga" mit seinem starken, rhyth misch akzentuierten Charakter zu, der auch für die Europäer, die die se Musik übernahmen, zum Modell wurde. Diese Übernahme war also mit einer Selektion verbunden; die Schärfe und das Aufrührerische des „tango-canciön" wurden bei der Europäisierung eliminiert. Glät te dominierte. Nicht einmal das Charakteristikum dieser Art der Auseinandersetzung mit einem mißlichen Leben, nämlich die Mi schung aus Bitternis, scharfer Iro nie und grimmigem Humor, wurde von den Europäern adaptiert. Groteskerweise ist auf diese Art Weills „Zuhälterballade" ganz un-