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6. PHILHARMONISCHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Dienstag, den 5. Februar 1985, 20.00 Uhr Mittwoch, den 6. Februar 1985, 20.00 Uhr oHlhairnooniie^ Dirigent: Herbert Kegel Solist: Thomas Christian, Österreich Violine Johannes Brahms 1833-1897 Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 Allegro non troppo Adagio Allegro giocoso, ma non troppo vivace PAUSE Peter Tschaikowski 1840-1893 Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 (Pathetique) Adagio — Allegro non troppo Allegro con grazia Allegro molto vivace Adagio lamentoso Der für dieses Konzert angekündigte Solist Pavel Kogan hat wegen Krankheit abgesagt. Wir sind Herrn Thomas Christian zu Dank verpflichtet, daß er in unserer Anrechtsreihe noch einmal auftritt und die Interpretation des Violinkonzertes von Johannes Brahms übernimmt. ZUR EINFÜHRUNG Jo hannes Brahms schrieb sein einzi ges, im Jahre 1878 komponiertes Violin konzert D-Dur op. 77 für seinen langjährigen Freund, den berühmten Geiger Joseph Joachim, der ihm auch bei der Ausar beitung der Solostimme in violintechnischen Fragen ratend zur Seite stand (ohne daß Brahms allerdings auf alle Änderungsvor schläge Joachims eingegangen wäre). „Nun bin ich zufrieden, wenn Du ein Wort sagst und vielleicht einige hineinschreibst: schwer, unbequem, unmöglich usw.", können wir in einem Brief vom August 1878 an Joachim le sen, den der Komponist ihm zusammen mit der zu begutachtenden Violinstimme schickte. In seiner Antwort darauf bemerkte der Gei ger, „daß das . . . herauszukriegen" und ein Teil sogar „recht originell violinmäßig" sei. Bereits am Neujahrstag des folgenden Jah res wurde das in einer glücklichen, fruchtba ren Schaffensperiode entstandene Werk (auch die 2. Sinfonie D-Dur und das 2. Klavierkon zert B-Dur stammen aus dieser Zeit und zei gen manche dem Violinkonzert verwandte ^üae) mit Joachim als Solisten unter Brahms' ^Bung uraufgeführt. ^ras Konzert, das sich in bezug auf Aussage, Form und Anlage außerordentlich vom Typ des zeitgenössischen Virtuosenkonzertes unter scheidet, war vom Komponisten zuerst vier- sätzig geplant worden. Da Brahms aber „über Adagio und Scherzo gestolpert ist", kompo nierte er den Adagio-Satz neu und ließ die beiden ursprünglichen Mittelsätze wegfallen. Trotzdem ist die ausgesprochen sinfonische Anlage des Konzertes unverkennbar. Schon Clara Schumann äußerte nach dem Kennen lernen des ersten Satzes, „daß es ein Konzert ist, wo sich das Orchester mit dem Spieler ganz und gar verschmilzt". Niemals ist die virtuose Violintechnik hier Selbstzweck, wie bei so vielen zeitgenössischen Solokonzerten, sondern in vertiefter, gehaltvoller Gestaltung stets als dienendes Glied in den sinfonischen Ablauf eingefügt, wobei (für Brahms' Zeit ganz neue) große Aufgaben an den Solisten gestellt werden. In seiner ausgewogenen Form gehört das Brahmssche Violinkonzert zu den schönsten, vollendetsten und berühmte sten Werken dieser Gattung. Das weiche, in ruhigen D-Dur-Dreiklängen auf- und absteigende Hauptthema des groß angelegten ersten Satzes (Allegro non trop po) erklingt eingangs in Bratschen, Violoncelli, Fagotten und Hörnern und findet seine Wei terführung in einer sehnsüchtigen Oboenme lodie. In der ausgedehnten sinfonischen Or chestereinleitung werden noch weitere Ne bengedanken entwickelt. Darauf setzt nach einem rhythmisch scharf betonten, später vom Solisten erweiterten Seitenthema kadenzartig das Soloinstrument ein, in gleichsam impro visatorischen Umspielungen zum Hauptthema findend. Nachdem auch das eigentliche zwei te, sehr kantable Thema von der Solovioline vorgetragen wurde, werden im spannungs vollen Durchführungsteil die verschiedenen Themen und Motive in mannigfachsten Aus drucksschattierungen verarbeitet. Die an die Reprise anschließende Kadenz des Solisten hat Brahms nicht selbst ausgeschrieben. In den höchsten Lagen der Violine ertönt danach noch einmal friedvoll die Anfangsmelodie, dann beschließt eine kurze, kraftvolle Coda den Satz. Ein wunderschönes, echt „Brahmssches" Ada gio bildet den Mittelsatz des Werkes. Der poesievolle dreiteilige Satz wird von den Blä sern eingeleitet, wobei die Oboen, von den übrigen Holzbläsern und zwei Hörnern be gleitet, das liebliche F-Dur-Hauptthema zum Vortrag bringen, das dann von der Solovioline aufgegriffen und variierend weitergesponnen wird. Nach einem leidenschaftlichen, weitge hend vom Solisten getragenen fis-Moll-Mittel- teil wird das Anfangsthema wieder aufgenom men; arabeskenhaft umspielen die Figuren des Soloinstruments den Oboengesang. Das abschließende feurige Allegro giocoso, in Rondoform aufgebaut, beginnt sogleich mit dem durch den Solisten erklingenden, ein wenig ungarisch gefärbten tänzerischen Hauptthema, das durchweg in Doppelgriffen erscheint. Von den Seitenthemen des Final satzes wird besonders ein energisch-markan tes, aufsteigendes Oktavthema der Violine be deutsam, daneben eine zarte, lyrische G-Dur- Episode. In einer Stretta gipfelnd, die das Rondothema noch einmal in rhythmisch ver änderter Form bringt, beendet der glanzvoll virtuose, spritzige Finalsatz mit einer Fülle origineller Einfälle das Konzert. Peter Tschaikowskis Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 entstand 1893, im letzten Lebensjahre des Komponisten, und wurde kurze Zeit vor dem Tode des großen rus sischen Meisters in Petersburg uraufgeführt. Tschaikowski, der das Werk selbst dirigierte, trat damit zum letzten Male in der Öffentlich keit auf. Die „Sechste", das letzte große Werk des Komponisten, stellt schlechthin einen Gip felpunkt in seinem gesamten Schaffen dar. Sie wurde tatsächlich sein „bestes Werk", wie Tschaikowski mehrfach während der Arbeit an der Sinfonie geäußert hatte. Sie wurde zu gleich sein Requiem. „Du weißt, daß ich im Herbst eine zum größ ten Teil schon fertig komponierte und instru mentierte Symphonie vernichtete, und das war gut, denn sie enthielt wenig Wertvolles und war nur ein leeres Tongeklingel ohne wirkli che Inspiration. Während der Reise kam mir der Gedanke an eine neue Symphonie, dies mal eine Programmsymphonie, deren Pro gramm aber für alle ein Rätsel bleiben soll. . . . Dieses Programm ist durch und durch subjektiv . . . Der Form nach wird diese Symphonie viel Neues enthalten, unter ande rem wird das Finale kein lärmendes Allegro, sondern im Gegenteil ein sehr langgedehntes Adagio sein." Diese Briefstellen des dreiund fünfzigjährigen Tschaikowski an seinen Neffen Wladimir Dawidow zeigen, aus welcher Situa tion heraus die „Sechste" entstanden ist. Die äußeren Lebensumstände des Meisters waren mit zunehmendem Alter durch sich steigernde Ruhelosigkeit, innere Gegensätzlichkeit und Zerrisenheit gekennzeichnet. Nur die Flucht in rastloses Schaffen verhalf ihm zu relativem Gleichgewicht. Leidenschaftlichster, unmittel barer Ausdruck der ihn bewegenden, ja fast zerreißenden Gegensätze wurde seine sechste Sinfonie. „In diese Sinfonie", schrieb Tschai kowski, legte ich ohne Übertreibung meine ganze Seele; ... ich liebe sie, wie ich nie zuvor eine meiner Schöpfungen geliebt habe." Wie viele seiner letzten Werke ist auch die „Sechste" von leidvollen Stimmungen durch zogen, aber nie im Sinne pessimistischer Hoff nungslosigkeit, Todessehnsucht oder willenlo ser Passivität. Auch im Ausdruck des Tragischen, der Klage, schwingt bei Tschaikowski seine lei denschaftliche Liebe zum Leben mit, seine Überzeugung von den erstaunlichen Kräften der menschlichen Seele, seine Verehrung für alles Schöne und Gute im Leben des Men schen und in der Natur. Unter den nachgelas senen Papieren des Komponisten fand sich ein Programmentwurf für die „Sechste", nach dem die eigentliche Idee des Werkes mit dem Wort „Leben" charakterisiert wird. Diese Idee, die ganz allgemein das Auf und Ab der dar gestellten Stimmungen deutlich macht, aber durchaus in einem innigen Zusammenhang mit dem Leben des Komponisten steht, dem Hörer beim Verständnis des Werkes es sich auch ganz und gar nicht um ein „Pro gramm" im Sinne der illustrativen Program matik Berlioz', Liszts oder Richard Strauss' han delt. Tschaikowskis Bruder Modest erzählt uns in seiner Biographie, wie die sechste Sinfonie ih ren Beinamen „Pathetique" erhielt. Am Tage nach der Uraufführung grübelte der Kompo nist über einen treffenden Titel für sein neue stes Werk, dessen ursprünglicher Name „Pro grammsinfonie" ihm plötzlich nicht mehr ge fiel. Modest schlug ihm „Tragische Sinfonie" vor, aber auch das mißfiel ihm. „Ich verließ bald darauf das Zimmer, bevor Peter lljitsch noch zu einem Entschluß gekommen war. Da fiel mir plötzlich die Bezeichnung .Pathetique' ein. Sogleich kehrte ich wieder ins Zimmer zu rück — ich erinnere mich noch so deutlich dar an, als ob es gestern gewesen wäre! — und schlug sie Peter lljitsch vor, der begeistert aus rief: .Ausgezeichnet, Modi, bravo! Pathetique' — und dann setzte er in meiner Gegenwart den Titel ein, durch den die Sinfonie überall bekannt geworden ist.“ Wenn Tschaikowski in formaler Hinsicht „viel Neuem" in seiner „Sechsten" sprich^® gilt das für die enorme Gegensätzlichkeit der Themen und der daraus resultierenden Verar beitung sowie für die Umstellung der Sätze ge genüber der traditionellen Norm. Diese Sätze wiederum sind im einzelnen durch eine große Strenge, Klarheit, und Konsequenz des Auf baus gekennzeichnet. Sie bedingen sich ge genseitig im Sinne aussagemäßiger Kontraste, sind aber auch durch gemeinsame Elemente miteinander verbunden (Tonfortschreitungen; spezifisch nationaler Charakter). Der inhaltliche Schwerpunkt der Sinfonie ist wohl der erste Satz, ein komplizierter Sona-