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gleichzeitig geistigen Obskurantismus, die Nichtachtung allen Menschen tums, die beginnende Auflösung aller humanistischen und humanen Werte und Ideale brachte. Sie ist aber insbesondere gekennzeichnet durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung, ihren Kampf gegen die herrschenden Mächte des Verfalls, der Unterdrückung und Zerstörung, für Demokratie, für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, für Sozialismus, für nationale Unabhängigkeit und für neue Ideale von Menschengröße, Men schenwürde und Menschenliebe. Diese Wirklichkeit erlebt Mahler mit tief empfindender Seele. Wie ein Seismograph verzeichnet sein Werk die Er schütterungen, das Ringen seiner Epoche. „Mahlers Weltanschauung konnte nur auf dem Boden einer niedergehenden Gesellschaft und Kultur entstehen, wie er sie erlebte, „einer Gesellschaft, die einem Künstler keinen Lebens inhalt, keine ideelle Perspektive mehr zu geben vermochte. Mahler emp findet deren Sinnlosigkeit, aber sieht nicht mit Klarheit den großen Ausweg, der Sozialismus, der der Menschheit und auch der Kunst neues Leben, neue Kraft bringen sollte, und er läßt sich als leidender spätbürgerlicher Künstler gelegentlich von dem vielen Abstoßenden der niedergehenden bürgerlichen Welt übermannen, das er sehr wohl gewahrt, ohne es eigentlich erklären zu können. Er sehnt sich fort vom Schauplatz so entsetzlicher Kämpfe, er sucht manches Mal zu entrinnen in trügerische Phantasiewelten von Urlicht mysterien, von Menschenferne und Irrealität" (Meyer). Armut war Mahlers erste Lebenserfahrung gewesen. Niemals konnte ihn — trotz aller Erfolge, die er errang — der kapitalistische Kunslbetrieb in der k. k. Monarchie und im wilhelminischen Deutschland befriedigen. Überall begegneten ihm Kleinlichkeit, Neid, Oberflächlichkeit, Intrigen, antisemi tische Umtriebe. „Von den Großen dieser Welt hielt er nicht viel. Gegen den Kaiser und den kaiserlichen Beamten führte er während der zehn Jahre seiner Wiener Direktionstätigkeit einen mannhaften Kleinkampf um die Lauterkeit und Unbestechlichkeit seiner künstlerischen Arbeit. Als ihm zum Beispiel einmal der Kaiser eine unbegabte Sängerin (eine seiner ehemaligen Geliebten) aufdrängen wollte, lehnte er es ab, sie auftreten zu lassen, es sei denn mit dem Zusatz auf dem Theaterzettel ,auf allerhöchsten Befehl’. (Der Kaiser verzichtete.) Solcher kennzeichnender Begebenheiten gibt es meh rere in Mahlers Leben. Wo gab es Reinheit und Menschenliebe? Wer hatte noch Sinn für höhere Dinge, Verständnis für tiefere Zusammenhänge? Wo gab es Menschen, die nicht bloß nach seichten Erfolgen, nach Geld, nach billigen Erfolgen streb ten? In der unmittelbaren Lebenserfahrung bürgerlicher Künstler aus jener Zeit gab es solcher Menschen nur wenige. Ein paar Freunde, wahrscheinlich selber Künstler oder Wissenschaftler — und die waren damals Außenseiter der Gesellschaft —, bei ihnen konnte man Verständnis finden, mit ihnen in kostbaren Stunden einen Gleichklang der Seelen feststellen. Wie nun war die Welt beschaffen, in der sich Mahler mit wenigen anderen Ausgewählten zu treffen vermeinte? Die Verachtung, ja die Verneinung der materiellen Umwelt lag ihr zutiefst zugrunde. Es schien ihnen, als käme es zu allerletzt darauf an, was sich in der .Welt der Erscheinungen' abspielte. Wichtig, entscheidend, ja, einzig gültig seien nur geistige Dinge. Und an diesen geistigen Dingen könnten eben nur wenige teilhaben. Solche Gedanken, in verschiedene Bilder gekleidet und mit dem verschiedensten Beiwerk ver sehen, waren sehr charakteristisch für die Auffassungen der bürgerlichen Intelligenz in jenen Tagen. Der Kunst war in dieser gedanklichen Konstruk tion ein besonderer Platz zugewiesen. Sie wäre das .Eigentliche', das .We sentliche' schlechthin. Der Kunst wäre es gegeben, über die Banalitäten des Lebens sich hinwegzusetzen, denn sie stamme aus einer anderen Welt und sei allein befähigt, einige wenige in diese andere Welt zu entrücken. Die Tatsache, daß nur wenige sich auf den Fittichen einer so gesehenen Kunst in eine bessere Welt schwingen konnten, daß die Kunst also nur eine aristo kratische sein könne — das schien nichts Erschreckendes zu sein, sondern ganz im Gegenteil die Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen. Eine solche geistige Position bezogen viele, allzu viele Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts in allen europäischen Ländern. Ihr Protest gegen die Grau samkeiten der Welt war ein passiver, ihr Heilmittel der Verzicht auf Wir kung außerhalb eines kleinen Kreises .. . Wenn Gustav Mahler seine Welt anschauung bewußt formulierte — und er tat dies oft in Briefen an Freunde und an seine Frau —, so ging er über diese Betrachtungsweise nicht hinaus. Auch ihm schien der Alltag banal, unwichtig, nichtssagend; die meisten Menschen, mit denen er zu tun hatte, oberflächlich, lärmend und gemein. ,Mit sich allein sein', ,zu sich selber finden' — das ist es, was aus dem Alltag hinausführt. Man muß wachsen, darüber hinauswachsen, um so einen Weg zu Gott zu finden. Und Gott, das ist für Mahler die Liebe. Er, der menschen scheu und — von ungezählten Menschen umgeben — einsam lebte, suchte die Verbindung zu den Menschen in der Einsamkeit seines Herzens. Je mehr der Mensch ,zu sich selbst' findet, desto inniger kann er sich in ,der Liebe' mit den Menschen verbinden. Gustav Mahler wäre nicht der große Musiker geworden, der er war, wäre er in dieser Haltung steckengeblieben" (G. Knepler). Mahlers Weltanschauung ließ ihn die Grausamkeiten der Welt, an denen er litt, und den Weg des Einzelnen zur Verbindung mit seinen Mitmenschen als „ewige" Kategorien erscheinen. Den letzteren sah er in der Verbindung mit Gott — Symbol für die Verbrüderung mit den Menschen, einer verinner lichten, humanistischen Liebe. Insofern er keine klare Vorstellung einer Gesellschaftsordnung hatte, die seine Ideale von Liebe und Brüderlichkeit verwirklichen würde, war er der bürgerlichen Weltanschauung seiner Zeit verpflichtet. Doch spricht es für Mahlers Größe, für seinen genialen Instinkt, daß er gewisse Zusammenhänge ahnte, wo er sie nicht wissen konnte: daß nämlich der Kampf um seine Ideale nicht mit und in Partituren auszu tragen war, sondern auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes. So setzte er sich beispielsweise für die sozialen Forderungen der Bühnenarbei ter ein, was keineswegs für einen Direktor der k. k. Wiener Hofoper Selbst verständlichkeit bedeutete. Unentbehrlich für’ das Verständnis Mahlers ist auch jene Begebenheit aus dem Jahre 1905, von der seine Gattin in ihren Erinnerungen berichtet (wobei Hans Pfitzners reaktionäre Einstellung der Haltung Mahlers gegenübergestellt wird): „übrigens war er (Pfitzner) erregt, böse erregt. Er war — es war der 1. Mai —- dem Arbeiterzug am Ring begeg net. Voll Wut über .proletenhafte' Gesichter war er schnell in eine Seiten gasse eingebogen und fühlte sich selbst in seinem Zimmer noch verfolgt. Bald kam Mahler. Mit einem Gemisch von Humor und Verdruß sah er Pfilz- ners Flucht nun im wahren Licht. Aber es machte ihm heute nichts. Er war zu glücklich. Er war dem Arbeiterzug auf dem Ring begegnet, war eine Zeit- lang sogar mitgewandert — alle hätten ihn so brüderlich angesehen —. Das eben wären seine Brüder! Diese Menschen seien die Zukunft!" (Fortsetzung im nächsten Programmheft) Mahler ist immer Weltanschauungsmusiker. In ihm glühen Prophetensehnsüchte, von denen seine Töne allen Menschen reden sollen. Allen Menschen! Hier findet sich der Schlüssel für seine Kraft sowohl, wie auch die Erklärung für das, was vielen Hörern an seiner Musik immer wieder „Trivialität“ oder gar „Kitsch“ zu sein scheint. Sein Menschentum war erfüllt von innigster Liebe zu allem Lebenden: allem Lebenden sollte seine Musik davon künden. Sie will zu jedem sprechen, will dem Einfachsten noch zu eigen sein. Es gibt nichts, das seiner Liebe nicht heilig genug wäre: da macht sich seine Musik eben alles zu eigen, schließt den Naturlaut wie das derbe Volkslied in sich, kennt das innigste Singen der Seele wie die gro tesken Fratzen, in die sich die Menschheit spaltet. Der roh stampfende Ländler wie