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ZUR EINFÜHRUNG Bohuslav Martinüs Oeuvre repräsentiert im internationalen Musikleben wohl am nachhaltigsten den Begriff der tschechischen Gegenwartsmusik, ohne daß dieser — bei der statt lichen Schar bedeutender zeitgenössischer Komponisten unseres Nachbarlandes — darauf be schränkt wäre. Der vielseitige, kraftvoll-eigenständige Komponist, 1890 in Policka in Böhmen geboren, begann seine Musikerlaufbahn zunächst nicht mit ausschließlich schöpferischer Tätig keit. Vielmehr saß er - nach dem Studium am Prager Konservatorium - zehn Jahre lang als Or chestergeiger in der Tschechischen Philharmonie. Daneben schulte er sich autodidaktisch in Komposition. Ein Ballett, „Ischtar“, erlebte bereits seine Uraufführung am Prager National theater, ehe Martinü in Josef Suk den ersten Kompositionslehrer fand. 1923 ging er nach Paris, und hier (bis 1940 lebte er in Frankreich), in der damaligen internationalen Musik metropole unter den Augen seines Lehrers Albert Roussel wurde Martinü seine Berufung ge wahr, besann er sich aber auch gleichzeitig auf sein urtümliches tschechisches Musikantentum, das Erbe seiner Nationalität, das er seitdem niemals verleugnet hat. Sein Verwurzeltsein im musikalisch-folkloristischen Heimatboden bewahrte ihn in all den Jahren in der Fremde, nicht zuletzt während seines Amerikaaufenthaltes (1941—1946), vor Nachahmung ihm nicht ge mäßer Stile, Auffassungen, Richtungen. Stets stand er in engstem Kontakt mit der Heimat, war sich seiner nationalen Sendung auch im Ausland bewußt und nahm lebhaften Anteil an dem traurigen Geschick seines Volkes während der Kriegsjahre. So schuf der Komponist unter dem Eindruck der Tragödie von München, die das Schicksal seines Vaterlandes besiegelte und ihn äußerst unglücklich machte, eines seiner bedeutendsten Werke, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, und 1943 den Orchesterhymnus „Lidice“ als Protest gegen die Ausrottung des gleichnamigen tschechischen Dorfes durch die Faschisten und in memoriam der Opfer dieser Barbarei. Nachdem Martinü jahrelang Musikprofessor an der Princeton Uni- versity und zeitweilig auch Kompositionslehrer am Manes College sowie in Tanglewood ge wesen war, folgte er 1946 einer Berufung als Professor für Komposition an das Prager Natio nalkonservatorium. Seitdem lebte er abwechselnd in Prag, New York, Prattcln (Schweiz) und auf Reisen. Am 28. August 1959 verstarb er in Liedsdorf (Schweiz). Für das stilistische „Sichfinden“ des jungen Komponisten wurden, wie schon angedcutet, seine ersten Pariser Jahre sehr wesentlich. Die antiwagnerische Musik fesselte ihn, die „Gruppe der Sechs“, Honegger, Milhaud, aber auch mit Strawinskys Schaffen begann er sich auseinander zusetzen. Doch vorübergehende Begeisterung für diesen oder jenen Stil vermochte Martinü nicht von seinem Weg abzubringen. Zunächst wollte er einen neuen national-tschechischen Opern stil entwickeln. Manche Versuche belegen uns sein Ringen um eigene, gültige musikdramatische Formen (allein sieben unveröffentlichte Opern aus den Jahren 1926—1937 und acht ebenfalls noch kaum verlegte Ballette), jedoch auch verschiedene, in die Öffentlichkeit gedrungene Statio nen auf dem Wege zum Ziel: das Mirakelspiel „Das Wunder unserer Frau“ (1933), „Juliette oder der Traumschlüssel“ (1936/37), die Kurzopern „Komödie auf der Brücke“ (1935) und „Die Heirat“ (nach Gogol, 1953), die Pastoraloper „Wovon die Menschen leben“ (nach Tolstoi, 1953), die Goldoni-Oper „Mirandolina“ (1954) und die Griechische Passion“ (1956). Auf schlußreich ist, daß im Gesamtwerk des tschechischen Meisters der Anteil der Instrumental musik dominiert, vielleicht weil die instrumentalen Ausdrucksmöglichkeiten seinem Tempera ment mehr entsprachen und seiner Ansicht vom schöpferischen Prozeß. Denn: „Auswahl“ ( = Konzentration) und „Organisation“ (= organische Konstruktion) erschienen Martinü als das wichtigste jeglicher kompositorischen Arbeit. Kein Wunder daher, daß er sich auch im Formalen weit eher auf unbestellteres Feld begab als auf den traditionellen Sonatensatz zu rückgriff. Alle musikalisch-technischen Mittel, Melodik, Harmonik, Polyphonie, unverkennbar nationales Kolorit, seine vitale Rhythmik, seine besonders in der letzten Schaffensperiode bewiesene lyrische Neigung, ordnete Martinü ein unter den Gesamtbogen seiner meisterlich gearbeiteten Werke, deren Aufbau indessen dem Hörer verborgen bleiben soll! Aber man beachte seine Mahnung, die er selbst nie vergaß: „Die technischen Mittel sind Privatsache des Künstlers. Die Technik entspringt jedoch dem Werk, nicht aber das Werk der Technik. Musik ist keine Frage der Kalkulation. Der schöpferische Impuls ist identisch mit dem Wunsche zu leben, lebendig zu fühlen“. Oder man lese auch jene Sätze, die Martinü in der Einführung zu seiner von Haydn inspirierten „Sinfonia concertante für vier Soloinstrumcnte, Streichorche ster und Klavier“ (1949) schrieb: „Ich habe meine Arbeit mit dem Vorsatz begonnen, in ihr - wenn ich kann - ein wenig von der Bejahung des ruhigen und glücklichen Lebens wiederzu geben . . .“ Die Icleenhaftigkcit der Martinüschen Tonsprache ist niemals ausschließlich persön licher Art, sondern stets von allgemein-menschlichem Interesse, geistig und emotionell. Dabei ist seine Musik zugleich der vollkommenste Ausdruck seiner Persönlichkeit, vital, geistvoll, sub stanzreich, aufrichtig und tief. Es ist bezeichnend, daß Martinü seine Musik vom Standpunkt des Lichts, des Lebens betrachtet wissen wollte. Der Sinfonik wandte sich der Komponist erst auf der Höhe seiner Meisterschaft zu. Zwischen 1942 und 1953 schrieb er sechs Sinfonien, von denen die beiden letzten die bedeutendsten sind und überhaupt die Höhepunkte seines gesamten Instrumentalschaffens darstellen. Ent stand die „Fünfte“ 1946 anläßlich des 50jährigen Bestehens der Tschechischen Philharmonie, so wurde die 6. Sinfonie in den Jahren 1951 bis 1953 komponiert und dem Dirigenten Char les Munch gewidmet, der neben Talich, Ansermet, Sacher und Kussewitzky zu den frühesten Förderern seiner Kunst gehörte. Das unser Konzert eröffnende Werk kann als inhaltliche Fort setzung der „Fünften“ betrachtet werden. Im Untertitel heißt es „Fantaisies Symphoniques“ („Sinfonische Fantasien“), ursprünglich hatte es der Komponist - mit dem Blick auf Berlioz - „Neue Phantastische Sinfonie“ nennen wollen. Das Boston Symphony Orchestra brachte die Sinfonie am 6. Januar 1955 unter der Leitung von Charles Munch zur Uraufführung. Für die Konzeption der drei Sätze sind Übergänge aus langsamer Verhaltenheit des Ausdrucks in mitreißende, elementare Rhythmen ebenso charakteristisch wie ein lyrisch-dramatisches Pathos von philosophisch-grüblerischer Haltung einerseits und freudige Stimmungen andererseits. Viel- gliedrig ist der erste Satz (Lento. Poco allegro. Lento). Erregte Streicher- und Holzbläserklänge erzeugen die Vorstellung eines Wirbels verschiedenster Gedanken, seelischer Verhaltenswei sen. Ein prägnantes Flötenthema ragt heraus. Im dramatisch-gespannten Hauptteil des ersten Satzes (Poco allegro), der selbst ein profiliertes, energisches Thema aufweist, erfolgt die Aus einandersetzung mit den Gedanken und Problemen der Einleitung, in deren Stimmung (Lento) er dann auch verklingt. Der zweite Satz (Allegro) mutet wie ein phantastisches Scherzo an; er entwirft ein prachtvolles Bild pulsierenden, tatkräftigen und freudigen Lebens. Eine getra gene lyrisch-philosophierende Gcdanklichkeit bestimmt zunächst den Beginn des Finales (Lento. Allegro. Lento). Dann erklingt in den Fagotten und tiefen Streichern, schließlich im Orchester tutti, ein feuriges, betont rhythmisches Thema, mit dem der Komponist ein weiteres lebens bejahendes Tonbild gestaltet. Eine kurze Episode lyrisch-betrachtenden Charakters steht am Schluß der im Pianissimo des ganzen Orchesters verklingenden Sinfonie. Einen weiten Weg hat der schlichte Gastwirtssohn, Dorfmusikant und Organist A n t o n i n Dvorak (1841-1904) zurücklegen müssen, ehe er - neben Smetana - gefeierter tschecho slowakischer Nationalkomponist wurde. Die Neue Welt Amerika hatte ihn angezogen (hier entstand 1894 seine populärste und bedeutendste 5. Sinfonie „Aus der Neuen Welt ), doch kehrte er bald wieder nach Prag zurück, wo er Direktor des tschechoslowakischen Konservato riums wurde. Ihm wurde das seltene Glück zuteil, Zeuge seiner internationalen Anerkennung zu werden. Die Universitäten Prag und Cambridge verliehen ihm die Würde des Ehrendoktors. Wie Smetana schöpfte auch Dvorak in seinen bedeutenden Kammermusik- und Orchesterwer ken, in seinen Opern (von denen in Deutschland vor allem „Rusalka“ bekannt wurde) aus dem unerschöpflichen Born der tschechischen Volksmusik. Dem feinnervigeren Smetana, aber auch Beethovens, Brahms’ und Schuberts Schaffen hat Dvorak, ein urwüchsiger Vollblutmusiker ersten Ranges, viel zu danken.