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Der Besuch des G r a f e n B e t h I e n inBerlin trat aus dem Nahmen äbnlicker Besuch? sichtbar hervor. Während die französische Presse darüber Beklemmungen und eine ge- : wisse Nervosität verriet, ist in der deutschen, in der italie nischen, in der ungarischen und darüber hinaus auch i» einem arohen Teil der Balkan- und der türkischen Presse die Mei- > nung vertreten worden d B; mit diesem Besuch gleichsam eine politisch - g e n i g e Strömung ihre Dar stellung fand. Italien erkennt immer mehr, daß seine Inter essen mit denen Frankreichs in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht immer stärker auseinandcrklaffen. Ein politisches Bündnis, wie es die Enicnte fas! ecu Jahrzehn! darstellte, ist für Italien wegen seiner Rivalität mit Frankreich kaum denkbar. Das Wort Mussolinis von dem Blick Italiens . nach dem Osten bekommt mit dem Besuch des Grafen Bethlen in Berlin und seinem Widerhall in Italien einen le bendigeren Inhalt. Nicht etwa in dem Sinne, daß Ungarns Ministerpräsident gewissermaßen als Mittler zwischen Ita lien und Deutschland aufgetreten wäre. Dazu lag um so we niger ein Anlaß vor, als zwischen Deutschland und Italien trotz aller freundschaftlichen Beziehungen doch immer das s Versailler Diktat stehen muß und stehen wird, solange nicht von italienischer Seite Taten erfolgen, die diesen Stachel wenigstens in seiner schärfsten Spitze abstumpfen. Es muß nicht ein Bündnis sein, das sich hier entwickelt. Der deutsche i Außenminister hat vor kurzem nicht ohne besonderen Anlaß erklärt, daß eine Bündnispolitik im alten Sinne für Deutsch land nicht mehr in Frage kommt. In Zukunft werden die Staaten, die um den wahren Frieden ringen und die die Möglichkeiten neuer Kriege zu beseitigen trachten, weniger Wert auf die vertragliche Festlegung machtpolitischer Ge sichtspunkte legen als darauf, daß die Regierungen und Völ ker mehr und mehr von dem Geist des Friedens und der Kultur der Menschheit und Menschlichkeit erfüllt werden. Dadurch ergeben sich selbst jene Macht- und Mächtegruppie rungen, die mit oder ohne Völkerbund die Idee einer Völ kersolidarität zu verwirklichen streben. * ! Frankreich schließt sich unter dem Einfluß der noch immer mächtigen Vertreter einer militärischen und wirt schaftlichen Hegemoniepolitik immer mehr von einer solchen Neugestaltung Europas ab. Es findet damit einen begeister ten Verbündeten in Polen. Der polnische Staat hat so eben der Welt sein wahres Gesicht gezeigt. Mit Unterstützung ' des französischen Propagandaapparates ist er leider in der , Laae, die große OefferMichkeit des Auslandes zu beein- > fluten. Daraus erklärt sich, daß das polnische Jnnenministe- ,' riuM es wagen konnte, eine Darstellung über den Wah l- terr.or und die Gewalttätigkeiten des pol nischen Nationalismus zn verbreiten, die der Wahrheit direkt ins Gesicht schlägt. Die polnische Regierung wußte aber, daß diese Mitteilungen mit Hilfe der franzäsi- i ichen Presseagenturen schnellstens in der ganzen Welt oer- ' »reitet würden. Don deutscher Seite ist mit voller Ueber- legung diese polnische Darstellung im Wortlaut wiedergege- den, aber gleichzeitig mit der Bemerkung versehen worden, daß es sich hierbei um eine vollkommen tendenziöse Ent stellung der wahren Tatsachen handelt, die Deutschland un ter Beibringung der entsprechenden Unterlagen in seiner Rote an den Völkerbund Nachweise» werde. Die bisher von Deutschland gegen de» polnischen Barbarismus unternommenen Schritte werden hoffentlich ihre Wirkung licht nerfeble». Wenn der Völkerbund nickt seine ganze Au torität verlieren und sein Programm und seine Ideen ver leugne» will, dann muß er hier wenigstens seinen Willen zeige», die Tatbestände aufzuklärc:i und gegen geschehenes Unrecht und Verbrechen einzuschreiten. Es ist eine andere Frage, ob sich der Völkerbund damit durchsetzen wird ange sichts der befremdlichen Haltung Frankreichs gegen solche Ungeheuerlichkeiten eines Staates. Aber damit werden sich noch mehr die Geister scheiden: Hier Gemalt und- Unrecht — hier Friede und Recht. Sie LtiMe ErMM im Mmer Berlin — Die Stadt ohne Schlaf Wir wollen in einer Reihe von Artikeln zeige», was die deutschen Großstädte trotz der schweren Wirlschaftslage während des Winters 193!),31 Bürgern und Gästen an Einrichtungen und Veranstaltungen, ernsteren und heite ren, zu bieten haben. Mit der Neichshauptstadt Berlin sollen diese Veröffentlichungen begonnen werden. RDV. Der berühmte Pariser Feuilletonist, G. de la Fouchar- vwre, ist kürzlich in Berlin gewesen und erklärte in ,,L' Oeuvre" den erstauten Parisern, warum Berlin jetzt eine magnetische Anziehung auf die Fremden ausübt: Er habe in Berlin die wahre Heiterkeit der Jugend gefunden, die einst Paris hatte. Vielleicht ist dieses Apercu auf die Spitze getrieben. Tatsache ist aoer, daß die Pariser jetzt Berlin „entdecken", daß in dem auch in Reisedingen konservativen England die deutsche Reichshauptstadt Mode wird, und daß sogar die Maharadschahs aus dem fernen Indien sich statt ein paar Tage einige Wochen in einem der Luxushotels Ber lins festsetzen. Die Wintersaison ist in vollem Schwung. Der Berliner braucht das Vergnügen wie sein tägliches Brot. Es ist seine Erholung, seine Entspannung. Lord d Abernon, der frühere englische Botschafter in Berlin, hat einmal ge sagt: ,Lch habe mich immer wieder gewundert, wie die Ber liner das aushalten können, bis um 2 oder 3 Uhr nachts zu bummeln und um 8 Uhr morgens wieder frisch an der Ar beit zu sein. Die Deutschen müssen «ine aute Natur habend Nichts in der Well kann den angeborenen Drang de« Berliners zum „Ausaehen" unterdrücken. Ein richtiger Aus gehabend beginnt in Berlin selbstverständlich mit einem The aterbesuch. Peter Sachse, ein echter Berliner, der vielleicht besser als irgend ein anderer seine Berliner kennt, hat fest gestellt, daß heute an jedem Abend in Berlin viel mehr Menschen in die Theater gehen als Skat svielen. Nur darum können in Berlin drei Opernhäuser (die keine andere Stadt der Welt besitzt) und mehr als 20 Sprechbühnen ersten Ran ges neben den ungefähr 10 Bühnen der leichteren Muse und der Revue sich hatten. (?) Die Revuen dieses Wilsters sind gerade jetzt vom Stapel gelaufen. Obwohl alte Stücke, sind sie im modern sten Gewände kaum wiederzuerkennen. Haller, Revuedikta- tor, hat in dem strahlend erneuerten Theater im Admirals- valast die Operetten „Die Csardasfürstin" in 12 farben schwelgende Bilder verwandelt, und Charell, der Herr des Großen Schauspielhauses, des größten aller Berliner The- ter, hat für das „Weiße Röhl" sein ganzes Haus von der Fassade bis zur Bühne in ein Hotel des Salzkammergutes, zu dem anch ein richtiger See gehört, verzaubert. Unter dem Sternenhimmel des „Wintergartens" erlebt man die klassische Atmosphäre des VarietLs, in der Scala hat das Wunder Rastelli den Meister Grock abgelöst, und in der Plaza, dem Volksoarietö Berlins, sieht man bereits für eine Mark aus dem billigsten, für 2 Mark auf dem teuersten Platz die Glanznummern des Varietes in der Abendvor stellung (übrigens kostet hier Kaffee und Kuchen dazu 30 Pfennig I). Freunde einer echten Berliner Komik wandern hinaus zum Weinbsrgsweg, um den neue» Liebling, Berlins — Erich Carow — in einem tollen Schwank zu sehen, oder sie lassen sich von Claire Waldoff im Corso-Kabarett, mit der Stimme eines Männergesangvereins, einen Berliner Schlager vorsingen Sie werden finden, daß der echte Ber liner zwar noch immer kein ganz kleines Mundwerk hat, aber trotzdem das Herz auf dem richtigen Fleck trägt. Und die alten und neuen Freunde Berlins werden dann den Re frain mit anstimmen, den Lotte Werkmeister, auch eine echte Berlinerin, in dem neuen Berlin-Marsch von Willv Kollo singt: „Die Berolina mußte schwinden, Die gute Dame war zu dick. Selbst die Pariser Leute finden Die Frauen von Berlin sehr chick." Die Kabaretts sind eine Berliner Spezialität. Das Kabarett der Komiker z. B., das in einem modernen Groß bau von Erich Mendelsohn zu Haus ist, bringt an jedem Sonnabend noch eine Nachtvorstellung, die um 11^ Uhr be ginnt und um 2 Uhr zu Ende ist, damit auch die Spätar beiter wenigstens einmal in jedem Monat noch dabei sein können. Dieses Kabarett hat auch unter Leitung des Groß meisters der Conferenciers, Willi Schaeffers, em „Studio" für junge Kabarettisten eingerichtet, über deren Leistungen das Publikum selbst abstimmt und urteilt. Der andere Teil der Berliner und der Fremden, der mehr für die Beine als für den Geist ist, bevölkert die Tanzkabaretts in der al ten und in der neuen City. Ihre Zahl ist Legion geworden. Letzte Mode sind — außer den großen Dachgärten, auf denen man tanzt oder Golf spielt — die Künstlerlokale, dis überall im Westen aus dem Boden schießen. Bekannte Künst ler vom Theater oder vom Film haben Kneipen eröffnet, kleine gemütliche Bierlokale, charmant eingerichtete Unter haltungsstätten oder Vars, in denen sich nach Mitternacht allerhand interessante Menschen treffen. Wer aus dem Thea ter kommt oder von einem Balle, der pflegt hier auszu ruhen, und die beste Zeit dieser Nachtlokale sind dke Stunden von 1 bis 3 Uhr. Vielleicht ist Berlins Nachitebm etwas anstrengend. Es entspricht voll und ganz dem Tenmu. in dem diese „Stadt ohne Schlaf" zu leben gewohnt ist. Die ungeheure Konkur-